Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
machte kein weiteres Aufheben um die Sache.
Bald ist Juttas Todestag, und der Priester wird nach der Lesung in der Kirche darauf eingehen. Hildegard weinte nicht, als Jutta starb, und sie weint auch jetzt nicht. Sie sieht hinauf zur Decke und denkt an Juttas letzte Zeit, aber sie fühlt nichts. In ihr ist eine Stille gewachsen. Eine Stille, die sich wie Fäulnis ausbreitet, die schwarze Blumen in der Seele pflanzt. Es ist eineunerklärliche Mattheit, die ihr die Freude an beinahe allem nimmt und die mit ihrer Niedertracht Gottes Worte daran hindert, ihre Seele zu erfreuen. Nach Juttas Tod hat sie mehr zu tun als je zuvor. Aber ist sie gereizt und unzufrieden, verfällt im Gebet oft in Unaufmerksamkeit. Es fällt ihr schwer, sich für irgendetwas zu begeistern. Sie verbirgt es, so gut sie kann. Die jungen Schwestern fragen sie um Rat wie immer, und es ist ihre Aufgabe, sie anzuleiten. Ihr Mund formt Worte und Sätze, die die anderen zufriedenstellen, für sie selbst aber keinen Sinn ergeben. Sie fragen sie nach dem Tod und nach dem Leben, ab und zu vermissen sie ihr Zuhause und ihre Eltern. Sie sagt, dass die Welt nicht ihr Zuhause ist, dass sie im Tod vereint werden mit ihrem heiligen Bräutigam. Sie sagt: Ein fröhliches Herz tut dem Leibe wohl; aber ein betrübtes Gemüt läßt das Gebein verdorren. Sie antwortet auf ihre Fragen und tröstet sie mit dem Wort Gottes, aber ihr Verstand stolpert dumm hinterher wie ein alter Hund. Sie hat Lust zu fragen: Woher soll ich das wissen? Lust zu sagen: Frag einen anderen, lass mich in Frieden.
Sie hat sich Volmar anvertraut, ihm erzählt, was sie plagt. Aber als er andeutete, der Frauenklause vorzustehen sei womöglich eine so große Aufgabe, dass Hildegard sie nicht bewältigen könne, wies sie ihn mit einer Heftigkeit zurück, dass sie beide erschraken. Seitdem hat sie nichts mehr zu ihm gesagt und es auch ihrem Beichtvater nicht anvertraut. Sie fühlt sich wie eine Verräterin. Es ist schwer, so zu tun, als sei nichts, wenn sie doch innerlich zugrunde geht. Es ist schwer, Zuflucht im Schweigen zu suchen, wenn man nicht schweigt, um mit Gott zu sprechen, sondern nur, weil es leichter ist, nicht mit anderen sprechen zu müssen. Es ist nicht so, dass sie Gott nicht länger sucht. Sie öffnet ihr stummes, dumpfes Herz für ihn, sodass er denWind durch die einsamen Kammern rauschen hören kann. Sie wendet sich ihm zu mit aller Kraft, doch er antwortet nicht.
Sie kann sich dunkel an den ersten Winter im Kloster erinnern. Es war, als existiere nichts anderes als eine kalte und fremde Welt, es fühlte sich an, als sei Gott fort und wolle nichts mehr mit ihr zu tun haben. Sie denkt, dass es jetzt das Gleiche ist, nur schlimmer. Jutta, der Abt und Volmar haben sie Gottes Sprachrohr genannt, aber das sagt jetzt niemand mehr. Diese Stille ist ihre Hölle. Ohne die strömende Kraft der Stimme ist es nicht nur, als höre sie auf zu existieren, sondern als sei sie gezwungen, ruhelos und verflucht umherzuwandern. Wenn sie an Jutta denkt, kann sie sich nur mit Mühe an ihr Gesicht erinnern, und wenn sie in ihren Träumen erscheint, hat Hildegard immer etwas Schreckliches getan und weigert sich, es zu büßen.
Jutta ist fort, und von außen betrachtet hat sich das Kloster kaum verändert. Ende Dezember sind die Hänge mit Raureif bedeckt. Schon am Nachmittag kriecht die Dunkelheit zwischen den Fichten und Weinbergen hervor. Dieselbe Glocke ruft zum Gebet. Aber im Innern ist alles verwandelt. Hildegard ist sicher, wenn Jutta sie jetzt sehen könnte, würde ihr nicht gefallen, was sie zu sehen bekäme. Hildegard bläst mit weißem Atem ihre Hände warm. Durch das Fenster unter der Decke kann sie einen Streifen des Himmels erahnen. Die Wolken ähneln dem Bauch eines Fischs, die Böen stapfen mit kleinen, nassen Füßen über die Mauer.
Vor der Vesper klopft Richardis vorsichtig an die Tür zu Hildegards Kammer, aber heute kann sie nicht aufstehen. Etwas später kommt Elisabeth, um zu sehen, ob sie krank ist, aber sie kehrt mit der Mitteilung zu den Schwestern zurück, dass Hildegard fastet und allein sein will. Durch die Wand kann Hildegard Margreth aus der Sankt Benediktusregel lesen hören, während die anderen essen. Hildegard hatte die Worte schon viele Male im gleichen Takt aufgesagt, wenn sie krank in ihrer Zelle lag. Doch jetzt verschwinden sie in einem ungeordneten Summen. Sie zwingt Juttas Gesicht aus der Dämmerung hervor, zwingt Hildebert, Mechthild, Drutwin und Benedikta
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