Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
wert, denn die Schlange kann nur mit Gottes Worten erstickt werden.«
Margreth beugt den Kopf und richtet den Blick auf die Arbeit. In der Nachmittagssonne baden kleine Vögel im Staub. Sie schlagen mit den Flügeln, legen die Köpfe zurück und entblößen die Kehlen. Die Stille besteht aus Wogen, die Hildegards Wut fortspülen.
Sie wischt ihre Hände an der Schürze ab. Die Sonne sinkt,die Wolken sind ein Strauß fleischfarbener Federn vor einem blassen, blauen Himmel. Margreth friert im Schatten.
»Sei geduldig, und ich werde zu dir sprechen«, sagt Hildegard endlich. »Das Einzige, was du jetzt wissen musst, ist, dass ich nicht bin, wie sie sagen. Ich bin schwach, mein Körper wird von Krankheiten befallen, meine Sinne werden von Versuchungen geplagt. Wie der Bach im Winter vom Eis verschlossen ist, ist meine Stimme versiegelt. Sie gehört nicht mir, und dennoch peinigt es mich so furchtbar, zu schweigen. Sei geduldig, Margreth, und mit der Zeit werde ich zu dir sprechen. Du hörst nicht mit deinen Augen, du siehst nicht mit deinen Ohren, du bist der Mond, der kalt und schön scheint. Ich dagegen sauge alle Laute auf, vermische sie in wirrem Durcheinander mit den Farben der ganzen Welt, ich brenne, dass mein Schweiß stinkt vor Ruß. Sei geduldig, Margreth. Sei gehorsam, sanftmütig und still.«
III
Disibodenberg
1140-1148
Dezember 1140
Hildegard ist nur noch selten im Infirmarium, um Volmar dort zur Hand zu gehen. Seit Jutta vor vier Jahren starb, ist es Hildegards Aufgabe, die Frauenklause zu leiten. Abt Kuno hat offenbar Angst davor, zu viel Macht an sie abzugeben, also ernannte er sie zur Subpriorin und nicht zur Äbtissin. Hildegard hatte keine Einwände, und es beruhigte die Brüder, denen die Anwesenheit der Frauen nicht gefällt.
Als Jutta starb, waren sie bereits zehn Schwestern. Jetzt sind sie achtzehn, und es ist unmöglich, noch mehr in die beengten Räumlichkeiten hineinzupferchen. Gott zeigt seinen Willen auf viele Arten. Wenige Jahre nachdem Margreth sich ihnen angeschlossen hatte, brannte die Mauer nieder, die den Innengarten umgab. Einige der Brüder meinten, das sei ein Zeichen dafür, die Frauen schleunigst fortzuschicken. Aber Hildegard ließ sie unverblümt wissen, dass sie die Zeichen Gottes falsch deuteten und sich somit aufführten wie kopflose Hühner.
Niemand konnte erklären, wie es zu dem Feuer gekommen war. Stichflammen schossen geradewegs in die Luft, obwohl die Mauer aus soliden, behauenen Steinen gebaut und nicht um ein Holzgerüst herumgemauert war. Ganz gleich, wie viele Eimer Wasser die Brüder aus dem Brunnen zogen und in die Flammen schütteten, wollte das Feuer nicht nachlassen. Es war gegen Ende des Sommers, und Gras und Bäume waren knochentrocken. Der Abt stand nur da und rang die Hände, Volmar musste die Arbeiten delegieren. Die Frauen suchten in der Kirche Zuflucht, und Volmar schlug vor, die Mauer zu Hildegards Zelle niederzureißen. Wie zu erwarten war, weigerte sich Jutta und bekam ihren Willen.
Während des Brandes konnte Hildegard nicht stillstehen und abwarten. Sie lief aus der Kirche und ging zur Hand, wo sie konnte. Das Feuer tobte unbändig, die Eimer waren schwer und schlissen ihr Blasen in die Hände. Genauso plötzlich, wie das Feuer ausgebrochen war, verlosch es. Es war, als ob es seine wilde Kraft aus dem Licht hole und in der Dämmerung sterben müsse. Schwitzende Gesichter, plötzliche Stille, der würzige Gestank von Rauch und verbranntem Gras. So unlogisch es war, dass die Steine Feuer fingen, so unbegreiflich war es, dass die Funken nicht auf die Frauenklause oder das Stallgebäude auf der anderen Seite übergesprungen waren. Niemand konnte es verstehen, und als Hildegard Volmars schwarze und zerkratzte Hände wusch, trat in der einen Handfläche ein kreuzförmiges Mal deutlich hervor.
Der neu ernannte Prior war mit seinen Prophezeiungen vom Jüngsten Gericht vorgeprescht und hatte im Namen der Brüder gefordert, die Frauen in ein anderes Kloster zu bringen. Aber als Hildegard mit dem verletzten Volmar dazukam, konnte der Abt ihr nicht widersprechen. Der Prior wusste mit Worten umzugehen und hatte einen Teil der Brüder hinter sich. Aber Kuno war immer noch Abt, und er kannte Hildegards Fähigkeiten ebensogut wie Volmar. Der Prior war ein paar Jahre vor Juttas Tod ins Kloster gekommen, zunächst als gewöhnlicher Ordensbruder, später war er zum Prior ernannt worden. Der Abt selbst hatte den Erzbischof gebeten, ihm einen strengen und
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