Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
hervor, aber ihre Gesichter sind blank wie ein Spiegel und ausdruckslos. Sie ballt die Hände, sie fällt durch die Jahre hindurch, die sich in umgekehrter Reihenfolge wie ein dunkler und bodenloser Brunnen um sie schließen.
Sie weiß, sie wurde am Tag vor Maria Magdalena geboren, im Jahr 1098, nachdem Gottes Sohn Mensch geworden war. Sie erinnert sich dunkel an die Felder bei Bermersheim und die Aufmerksamkeit, die Jutta ihr entgegenbrachte, als sie nach Sponheim kam. Sie weiß, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach den Rest ihres Lebens zwischen diesen Mauern auf genau die gleiche Weise verbringen wird, wie jeder einzelne Tag sein wird. Sie weiß, dass das Schweigen der Weg zu Gott ist und dass das Schweigen sie gleichzeitig versteinert. Jetzt ist es, als wisse sie von nichts anderem auf der Welt. Das, was sie zu wissen glaubte, ist unbemerkt aus ihr herausgesickert. Früher fühlte sie sich oft verwirrt, erdrückt von Fragen und wimmelnden Ideen. Damals konnte es vorkommen, dass sie wie eine Idiotin von der absoluten Stille des Geistes träumte, aber jetzt versteht sie, dass die Abgestumpftheit der Gedanken viel qualvoller ist. Sie ist ein Stück ausgetrocknetes Holz, das früher oder später mit einem leeren und knirschenden Laut mitten entzweibrechen wird.
Bereits im Jahr vor ihrem Tod hatte Jutta begonnen, immer häufiger über die Prophezeiung nachzudenken, die die alte Trutwib an dem Tag ausgesprochen hatte, als sie und Hildegard imKloster ankamen: Nach vierundzwanzig guten Jahren werde Jutta im Kloster sterben.
Im Laufe der folgenden Monate rief Jutta Hildegard zu jeder passenden und unpassenden Zeit zu sich, um ihr Instruktionen für ihren bevorstehenden Tod zu geben. Jutta war voller Sehnsucht, Christus von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, und unruhig bei dem Gedanken daran, wieweit er wohl Gefallen an ihr finden werde. Sie sprach von ihrem Sterbelager wie von einer Hochzeitsfeier, und Hildegard musste ihre Wünsche so lange wiederholen, bis sie sicher war, dass Hildegard ihnen nachkommen würde: Sobald Jutta erste Anzeichen einer ernsten Schwäche oder tödlichen Krankheit zeige, solle die Mauer niedergerissen werden, damit sie das heilige Abendmahl jeden Tag empfangen und sicher sein könne, von allen Sünden rein vor ihren Bräutigam zu treten. Sie war so überzeugt davon, dass Trutwibs Prophezeiung eintreten werde, dass Hildegard nichts zu sagen wagte. Erst als der Winter einsetzte, spürte Hildegard eine gewisse Ungeduld. Jutta rief Hildegard nicht mehr ganz so oft zu sich, sondern verharrte die meiste Zeit über hinter den Läden.
Drei Wochen vor ihrem tatsächlichen Todestag öffnete sie ihre Läden und blickte wie ein Geist durch die Gitterstäbe hindurch. Sie hatte eine Schau gehabt und den genauen Zeitpunkt ihres Todes erfahren. Obwohl sie niemals zuvor die Gabe der Seherin erfahren hatte, war ihr der angelsächsische König und Märtyrer Sankt Oswald leibhaftig erschienen. Er war zum Kampf gerüstet gewesen, und Jutta beschrieb seine Gesichtszüge, sein blondes Haar und die blauen Augen in so zahlreichen Einzelheiten, dass Hildegard ihn selbst vor sich sehen konnte. In der Schau hatte er ein Holzkreuz in den Steinboden gepflanzt und sie mild und hintergründig angelächelt. Jutta überkam einGefühl großen Friedens und Glücks, Oswald in Empfang zu nehmen. Hinterher wurde ihr schwindelig, dann richtiggehend übel, was sie als sicheres Zeichen deutete, dass der heilige angelsächsische König tatsächlich als Bote Gottes gekommen war. Sie bat Hildegard, ein paar Tage abzuwarten. Doch schon am selben Abend redete sie im Wahn, und als Hildegard, Margreth und auch Elisabeth ihr durch das Gitterfenster zuriefen, antwortete sie ihnen nicht. Die Nacht wurde lang und unerträglich. So sanftmütig und still, wie Jutta gelebt hatte, so ungestüm und lautstark kam ihr Tod. War sie bei Bewusstsein, lag sie still da und betete mit gefalteten Händen. Sobald aber die Fieberdämonen wieder tanzten, schrie und kratzte sie, als wolle sie sich mit allen Kräften dem Tod widersetzen, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte.
Hildegard wachte die ganze Nacht über am Fenster, ohne Jutta in der Dunkelheit sehen zu können. Mehrere Male war sie kurz davor, Juttas Gebot zu trotzen, einen Tag und eine Nacht vergehen zu lassen, bevor sie die Brüder herbeirief und die Mauer einreißen ließ. Am Morgen war Jutta zur Ruhe gekommen. Sie erwachte erst nach der Prim, war schrecklich durstig und
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