Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
Vom Netzwerk:
oft muss Mechthild mitten in der Nacht aufstehen. Sie bezahlt die Frau nicht, wie sie es versprochen hat, weil sie es nicht wagt, noch einmal zu ihr zu gehen, und auch niemanden bitten kann, es für sie zu tun.
    Nachts steht sie auf und schleicht durch die Schlafkammern der Kinder. Drutwin runzelt im Schlaf die Nase und zieht verächtlich die Oberlippe hoch. Nachdem er jahrelang seinem Vater als Page gefolgt ist, lässt Hildebert ihn nun in der Regel zu Hause, wenn er nach Sponheim reitet, obwohl der Junge bald Knappe werden soll. Drutwin tut so, als mache es ihm nichts aus, doch alle wissen natürlich, dass es keine größere Schande gibt als die Zurückweisung durch den Vater.
    Hugo zerwühlt sein Bett im Schlaf, liegt oft mit dem Kopf am Fußende, und Mechthild legt vorsichtig die Decke über ihn, auch wenn sie weiß, dass er sie strampelnd und wälzend wieder abstreifen wird, sobald sie weg ist. Irmengard und Odilia schlafen im selben Bett, sie saugen beide immer noch am Daumen, obwohl sie schon zehn und acht Jahre alt sind. Wenn Mechthild die Finger aus ihren schlafenden Mündern zieht, folgen kleine Girlanden aus Speichel mit. Clementia und Benedikta liegen in der Kammer nebenan, bewacht von Meister Otto, der vor ihrer Tür schläft. Die ältesten Töchter sind ihr ganzer Stolz, und es verschafft ihr Ruhe, sie zu betrachten. Clementia liegt ganz still, mit dem Gesicht zur Wand, ihre Schultern bewegen sich ganz leicht. Benediktas Haar ist ein Vogelnest und ihr Gesicht ein kleines Ei.
    In ihren schlaflosen Nächten geht Mechthild nie zu Hildegard hinein. Lange steht sie vor der Tür zu ihrer Kammer. Sie lauscht, kann aber nichts hören. Falls Hildegard tot ist, wird sie es erst wissen, wenn es Morgen ist.
 
    In dem Frühjahr vor ihrem fünften Geburtstag ist Hildegard kräftiger als je zuvor. Mechthild erlegt ihr nur unbedeutende Pflichten auf, und die meiste Zeit spielt sie alleine. Sie entdeckt Verstecke außerhalb der Mauer. Manchmal brauchen sie Stunden, um sie zu finden. Agnes ist jedes Mal ganz verzweifelt und droht den anderen Kindern, sollten sie Mechthild etwas davon erzählen.
    Wenn Hildebert zu Hause ist, bringt er die Kinder gerne zum Lachen, aber bei Hildegard ist das nicht so leicht. Sie sieht ihn mit ernsten Augen fast gleichgültig an, welche Späße er auch immer macht. Wenn er resignierend beide Arme ausbreitet, bricht sie manchmal jedoch plötzlich in lautes Gelächter aus, und dann lacht er mit ihr, ohne es zu verstehen, und hebt sie hoch in die Luft.
    Sie hat Angst vor den sonderbarsten Dingen, während andere sie vollkommen unberührt lassen. Hildebert kann sich immer noch darüber amüsieren, wie sie als Zweijährige in der Sonne hin und her rannte, Angst hatte vor dem schwarzen Geist, der sie hartnäckig verfolgte. Dass es ihr eigener Schatten war, konnte er ihr nicht begreiflich machen, sie schrie und rieb sich mit den Händen über die Fußsohlen.
    Einmal weinte sie, als einer der Hunde ein Kaninchen fing und dessen Ohren blutig biss. Aber wenn am Hof geschlachtet wird und die Tiere zerlegt werden, schaut sie interessiert zu. Wenn Hugo versucht, sie mit heidnischen Geschichten von der Nebelfrau oder von verlorenen Seelen, die auf dem Friedhof herumspuken, zu erschrecken, hört sie aufmerksam zu und verzieht keine Miene. Aber die entstellten und missgestalteten Bettler auf dem Marktplatz in Mainz oder Gerüchte über den Tod eines Kindes bringen sie zum Weinen. Aus Hildegard wird man nicht klug, aber Hildebert wünscht sich nicht, sie möge anders sein, und immer ist sie es, zu der seine Gedanken als Erstes wandern, wenn er nicht zu Hause ist.
    Jedes Mal, wenn Mechthild über die Kinder sprechen will, hört er nur ungeduldig zu. Die großen Linien sind bereits gezeichnet: Roricus ist im Kloster, die Mädchen werden heiraten, und irgendwann einmal wird entweder Drutwin oder Hugo den Hof übernehmen. Dass es Drutwin sein wird, hält Hildebert für unwahrscheinlich. Er hatte ihn mit zum Grafen von Sponheim genommen, als Drutwin acht Jahre alt war. Er sollte den Knechten am Hof zur Hand gehen und etwas über die Bewirtschaftung lernen und seinen Vater bedienen, wenn der nicht in den Kampf zog. Dass sowohl Drutwin als auch Hugo als Ritter bei Hof dienen sollen, versteht sich von selbst, doch fällt es ihm zunehmend schwer, sich Drutwin im Kampf vorzustellen. Der Junge ist ein elender Schwertkämpfer, und beim Üben mit der Lanze bringt er Schande über seinen Vater. Um ihn zu bestrafen, hat

Weitere Kostenlose Bücher