Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
er ihn mehrere Monate lang nicht mitgenommen, aber es scheint eine ebenso große Befreiung für den Jungen zu sein wie für ihn selbst. Im Stillen hat Hildebert bereist beschlossen, dass es das Beste ist, den Jungen wie seinen großen Bruder ins Kloster zu schicken. Insgeheim hat er bereits Erkundigungen über ein Kloster in Frankreich eingezogen, will Mechthild seine Entscheidung aber erst wissen lassen, wenn alles entschieden ist.
Will Mechthild über Hildegards Zukunft sprechen, unterbricht er sie. Einmal träumte er, sie fliege auf dem Rücken eines Vogels und es sei ihr dabei ganz leicht ums Herz gewesen. Erstals ihm später am Tag die nächtliche Erscheinung noch einmal in den Sinn kam, begann er sich Sorgen zu machen, es könne die Prophezeiung eines frühen Todes sein.
Mit der Zukunft soll man sich nicht aufhalten, sagt er zu Mechthild, die Zukunft gehört uns nicht. Dann schweigt sie. Senkt den Blick und schweigt, obwohl das Schweigen zwischen ihnen vor Unfrieden vibriert.
Er kann sich über sein Schicksal nicht beklagen, auch wenn Mechthild ihm den Zutritt zu ihrer Kammer verwehrt. Schon als Junge hatte er sich am Hof in Sponheim hervorgetan. Er war einer der besten Reiter und im Zweikampf unübertroffen. Zum Dank erhielt er den Hof in Bermersheim und das Recht auf Felder und Wald. Für seinen Vater war es eine Erleichterung, dass er Grund und Boden nicht zwischen seinen Söhnen aufteilen musste, und so will er es auch einmal haben, wenn die Zeit gekommen ist. Er hat einen Verwalter, der ihm treu ergeben ist, und gute Leute in Lohn und Brot. Er hat die richtigen Entscheidungen getroffen, was die Bewirtschaftung des Hofs angeht, und erntet Jahr für Jahr die Früchte seiner Arbeit. Wenn er nach Sponheim reitet, nimmt er keinerlei Sorgen mit. Manchmal hält er sein Pferd an, bevor er in den Wald reitet, und blickt auf seinen Hof zurück. Die viereckigen Türme mit den Wimpeln, die kreisförmige Steinmauer, der Hügel, auf dem das Haus gebaut ist, ragen aus den flachen Feldern heraus.
10
Mechthild freut sich darüber, dass sich Hildegard als das einzige ihrer Kinder für die Tiere auf dem Hof interessiert.
Manchmal nimmt sich Mechthild selbst den Eimer und füttert die Hühner. Sie stößt das Hühnermädchen zur Seite und tastet im Stroh nach Eiern. Anschließend inspiziert sie die Schafe und Lämmchen, begräbt die Hände in ihrer filzigen Wolle und erklärt Hildegard, wann sie geschert werden müssen. Sie schmiert Salbe auf die Ohren der Lämmchen, wenn sie geschwollen sind, und sorgt dafür, dass das hinkende Schaf Ruhe vor den anderen hat. Nur die Jagdhunde interessieren sie nicht, sie gehören Hildebert. Er behandelt sie wie Fürstenkinder, aber wenn sie an ihnen vorbeigeht, entblößen sie das violette Zahnfleisch und knurren sie an. Ist Hildebert in Sponheim, nimmt der Verwalter sie mit in den Wald, wenn er nach den Fallen sieht. Ansonsten sperrt er sie in den Hundezwinger, wo sie bellen, sich wie wahnsinnig gebärden, sich gegenseitig beißen und nach den Kindern schnappen. Mechthild spuckt nach ihnen, wenn ihr Weg sie am Zwinger vorbeiführt. Die große Hündin ist die Anführerin des Rudels. Hildebert nennt sie Oktober, weil ihr geflecktes Fell die Farbe von gefallenem Laub hat. Letzten Winter bekam sie Welpen, biss zwei von ihnen in der ersten Nacht tot. Den letzten wollte Mechthild ertränken, der Nachkomme eines bösartigen Köters sei es nicht wert, ihn zu behalten. Aber Hildegard weinte, als sie das hörte, und Hildebert wurde weich. Schließlich musste Mechthild einwilligen, ihn zu behalten, sollte er überleben. Es ist ein Rüde, und er wurde schon vor längerer Zeit von seiner Mutter getrennt. Es ist der einzige Hund, der nicht in den Zwinger gesperrt wird. Er spaziert im Haus ein und aus, wie es ihm passt, obwohl das Mechthild nicht gefällt. Er hat einen breiten Kopf und große, flache Pfoten. Seine gelben Augen blicken nicht bösartig wie die seiner Mutter, aber er ist kein guter Jagdhund. Hildebert hat es aufgegeben, ihn abzurichten. Dafür schnappt er Laute auf, die kein anderer hören kann, und er schlägt an, sobald sich jemand dem Hof nähert. Er heißt Falk. Hildegard hat ihn so genannt. Und obwohl Hildebert über sie gelacht hatte und fand, dass das kein Name für einen Hund sei, ließ sie sich nicht davon abbringen. Er hat Federn, sagte sie und wühlte mit ihren Fingern in dem goldbraunen Fell. Hildebert hatte über sie gelacht, und sie hatte mitgelacht.
Weitere Kostenlose Bücher