Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Frauen?«
Hildegard sieht ihn überrascht an. Sie öffnet und schließt den Mund, als sei sie über seine Frage schockiert. Der Abt prüft seine Worte, ohne verstehen zu können, warum sie so reagiert.
»Ich bin versucht zu fragen, was ihr über fromme Frauen wisst, das ich nicht weiß«, fragt sie, anstatt eine Antwort zu geben. »Obwohl ich nur eine Frau bin und obwohl ich nie meine Schwäche verbergen kann, kenne ich meine Schwestern und Töchter besser als irgendjemand anders. Das, glaube ich, wird niemand anzweifeln.« Sie sieht von einem zum andern, aber keiner antwortet. Welcher Ordensbruder würde es wagen, sich auf eine Weise zu äußern, die darauf hindeuten könnte, er habe Kenntnis vom verborgenen Leben der Frauen?
»Ich weiß nur von eurer Frömmigkeit«, sagt Volmar langsam. Zuvor zeigte er Hildegards Irrtümer auf, und jetzt wagt er es, mutig zu sein und ihr zu Hilfe zu kommen. »Niemand hat Grund, das anzuzweifeln.«
Hildegard nickt nachdenklich. »Obwohl Jutta, die Frömmste unter uns allen, mir durch ihr vorbildliches Beispiel gezeigt hat, wie die Frauenklause geleitet werden soll, gab es dennoch Fragen sowohl praktischer als auch geistlicher Art, in die sie keinen Einblick hatte, allein aus dem Grunde, dass sie so treu war in ihrer Hingabe an den Herrn und so stark gebunden war an ihren heiligen Bräutigam. Sie musste oft den Blick von dieser tristen Welt abwenden. Glücklicherweise habe ich in allem, was ich tue und was ich zu meinen Schwestern sage, von dir, Abt Kuno, gelernt. Ich weiß, du hattest Last mit ungehorsamen Brüdern, und manchmal war es nicht genug, sie hier imKloster zu bestrafen. Du musstest sie fortschicken, nachdem du sie oft zuvor ermahnt hattest. Es ist ein großes Glück, dass das unter den Frauen nie notwendig gewesen war. Aber sollte es jemals dazu kommen, werde ich nicht zögern, die Strenge und die klare Urteilskraft auszuüben, die ich von dir erlernt habe«, sagt sie und nickt mehrere Male.
Keiner der drei Männer sagt etwas. Verwirrt sieht der Abt Volmar an, der seinem Blick absichtlich ausweicht. Der Prior atmet flach und hastig, kleine Windstöße in der Stille.
Bevor einer von ihnen entscheiden kann, ob Hildegard den Abt beleidigt oder ihm und den Brüdern ein Kompliment gemacht hat, fährt sie fort.
»Die Jungfrau steht in der unbesudelten Reinheit des Paradieses«, sagt sie und lächelt. »Sie ist schön und unvergänglich wie eine Rosenknospe. Sie braucht ihr Haar nicht zu bedecken, tut es aber aufgrund ihrer großen Demut. Ein frommer Mensch wird seine Schönheit verbergen aus Furcht davor, dass Habicht und Wolf ihre Klauen danach ausstrecken und sie stehlen«, flüstert sie und hebt eine Hand. »Deshalb geziemt es sich für die Jungfrau am meisten, weiße Kleider und den weißen Schleier als leuchtendes Symbol dafür zu tragen, dass sie Christus gehört und ihre Sinne verbunden sind mit Gott, dass sie eines von den Lämmern ist, ›die Seinen Namen und den Namen Seines Vaters geschrieben haben auf der Stirn‹ und zu jeder Zeit ›die sind, die folgen dem Lamm nach, wohin es geht‹.« Sie lässt die Hand sinken und schweigt, sieht über ihre Köpfe hinweg, zum Fenster hinaus, als überlege sie, ob sie etwas vergessen habe.
»Das ist …«, beginnt der Prior und steht wieder auf. »Du bist …«, er zeigt auf Hildegard, die ihn unverwandt ansieht.
»Ja?« Sie wendet die Handflächen zur Decke.
Er schüttelt den Kopf. Etwas in ihm hat sich losgerissen. Ihre Worte haben ihn verwirrt, und er weiß nicht, was er antworten soll. Dennoch hat er das untrügliche Gefühl, dass es zwingend notwendig ist, den Mund aufzumachen und all das zu sagen, das sich als stumme Anklagen in ihm aufgestaut hat, gegen Hildegard und die Frauen, die sie trotz ihres fehlenden Äbtissinnentitels ihre Schwestern zu nennen wagt.
»Es ist nicht angemessen, dass du nur adelige Frauen in der Klause akzeptieren willst«, sagt er hitzig. »Wie soll ich dich verteidigen, wenn die Leute sagen, du machst Unterschiede zwischen den Menschen, obwohl Christus alle seine Kinder mit gleicher Kraft liebt?«
»Lieber Freund«, sagt sie und breitet ihm zugewandt die Hände aus. »Wie froh bin ich, dass du mit deinen Sorgen und Fragen zu mir kommst. Nicht zuletzt, wenn es etwas ist, von dem ich glaube, es trotz meiner Ungelehrtheit befriedigend beantworten zu können. Ich hoffe, du wirst meine Worte annehmen. Dann musst du nicht länger unruhig sein, wenn Leute dich danach fragen, sondern kannst
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