Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Fieberwahn. Um des lieben Friedens willen willigt Hildegard ein, und Elisabeth stürzt augenblicklich davon, um ihn zu suchen. Die Frauen drängen in ihren schwarzen Trachten ins Dormitorium, als Volmar an die Tür klopft. Er sieht auf ihre Zunge und nimmt ihren Puls. Er nickt, sie nickt, sie sitzen sich stumm gegenüber.
»Wir warten mit dem Alphabet«, sagt sie, und er hebt verblüfft die Brauen. »Ich hatte die schönste Schau, Volmar.«
»Heute Nacht?«
»Nein, während die Mädchen zur Vesper waren und ich in meinem Bett lag. Das Fieber und die Schmerzen waren weg, und ich lag matt und kraftlos in meinem Bett und dachte über das Alphabet nach, darüber, dass ich selbst dem Abt erklären muss, wie es zusammenhängt. Plötzlich fühlte ich mich kräftig genug, um mich aufzusetzen, und da geschah es, dass Gott sich mir wieder zeigte. Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber ich möchte dich bitten, mit mir zum Abt zu gehen, denn ich habe wichtige Dinge auf dem Herzen.«
»Jetzt?«, fragt Volmar und reibt seine Hände, damit sie warm werden.
»Nein, morgen«, antwortet Hildegard.
Wie gewöhnlich nimmt Hildegard nicht Platz, als ihr beim Abt ein Stuhl angeboten wird, sondern bleibt direkt vor der Tür stehen. Sowohl Volmar als auch der Prior müssen die Stühle halb umdrehen, um nicht mit dem Rücken zu ihr zu sitzen. Der Abt sitzt zwischen ihnen in seinem hochlehnigen Stuhl. Passend für den Prior waren er und der Kellermeister gerade gekommen, um die Inventarlisten durchzugehen, als Hildegard und Volmar an die Tür klopften. Während der Kellermeister mit dem Bescheid, später wiederzukommen, hinausgeschickt wird, soll er bleiben und hören, was Hildegard auf dem Herzen hat. Der Abt will es sich nicht mit seinem Prior verderben und hält es für das Beste, ihn zu Rate zu ziehen und ihn in alles einzuweihen, was ihm angebracht erscheint.
Ob Hildegards Anliegen angebracht ist, weiß noch niemand. Sie sagt nichts, bewegt aber schwach die Lippen. Sie ist vierzig Jahre alt und nicht mehr jung. Wenn man sie nur von hinten sieht, ähnelt sie noch immer einem Jungen. Es liegt eine Schnelligkeit und Entschlossenheit in ihren Bewegungen, die sie stärker und gesünder erscheinen lässt, als sie tatsächlich ist. Vor einiger Zeit sah es so aus, als sei ihre Gesundheit mit den Jahren besser geworden, aber nach Juttas Tod wurde sie wieder hart getroffen. Ihr Gesicht hat sich nicht sehr verändert, auch wenn sie feine Falten am Mund und auf der Stirn bekommen hat. Sie hat einen sonderbaren, durchdringenden Blick in ihren unnatürlich hellen Augen, einen Blick, an den sich der Abt nie gewöhnen wird.
»Sprich, Hildegard«, fordert der Abt sie auf. »Da du zusammen mit Volmar kommst, gehe ich nicht davon aus, dass du mit mir über eine seelische Angelegenheit sprechen willst. Deshalb habe ich den Prior gebeten zu bleiben«, fährt er fort und macht eine ausladende Handbewegung.
Hildegard nickt. »Der Prior kann bleiben. Das, was ich zu sagen habe, wird ohnehin im ganzen Kloster bekanntwerden.«
Der Prior bewegt sich auf seinem Stuhl. Natürlich weiß er von Hildegards Gabe, hat sie aber noch nie selbst darüber sprechen hören. Die Mühe, die es ihr bereitet, einen Anfang zu finden, und ihr verschlossener Ausdruck zeugen davon, dass das, was sie sagen will, ernst ist.
Sie lässt den Blick von einem zum anderen gleiten. Als er auf Volmar fällt, ist der Prior sicher, dass ein unmerkliches Lächeln über ihr Gesicht huscht. Volmar bewegt den Oberkörper ruhig vor und zurück, als ob er mit einem Kind in den Armen dasäße, das in den Schlaf geschaukelt werden soll.
»Ehrwürdiger Vater, gestern Abend sah ich wieder ›Das Lebende Licht‹«, beginnt sie und schließt die Augen. »Gott zeigte sich mir und offenbarte mir seinen Willen in einer Schau. Ich sah die Kirche die Form einer Frau annehmen, ich sah, wie meine Schwestern in der heiligen Taufe von Sünde gereinigt wurden, ich hörte Gott von Erlösung und Verdammnis sprechen.« Sie hält inne und öffnet die Augen.
Die drei Männer sehen sie an. In dem, was sie gesagt hat, ist nichts Aufsehenerregendes, und der Prior kratzt sich zerstreut im Ohr. Wenn es das ist, was sie zu sagen hat, können sich alle und ein jeder Gottes Posaune nennen. Sie schweigt so lange, dass sogar Volmar sich wundert. Er macht eine unruhige Bewegung, der Stuhl knirscht, sie betrachtet Volmar ausdruckslos und beginnt wieder zu sprechen. Sie erklärt die Schau detailliert und gibt genau
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