Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Gottes Worten meinen eigenen Stempel aufgedrückt?«
Der Abt sieht vom Prior zu Volmar. Der Prior schnappt nach Luft, doch fällt ihm nichts ein, das er sagen könnte.
»Euer Schweigen ist Antwort genug«, sagt Hildegard, nachdem sie so lange gewartet hat, dass der Prior sich kaum noch beherrschen kann. »Ich weiß, er hat eine Frau so zerbrechlich, schwach und ungelehrt wie mich erwählt, damit niemand die Wahrheit seiner Worte anzweifeln kann. Ich könnte mir unmöglich selbst Zugang zu solchen Mysterien erzwingen oder solch große Wahrheit mit meiner eigenen dummen Stimme sprechen«, fährt sie fort. »Gott ist klug in allem, was er tut«, fügt sie flüsternd hinzu.
Es ist still im Arbeitszimmer des Abts, bis der Prior, ansonsten als ein strenger und beherrschter Mann bekannt, nicht länger ruhig auf seinem Stuhl sitzen kann.
»Das ist unzulässig«, ruft er und springt auf. »Es kann unterkeinen Umständen die Rede davon sein, dass die Schwestern Kronen und Seidenschleier um ihr offenes Haar tragen.«
»Ich wurde selbst davon überrascht«, flüstert Hildegard, »doch kann ich mit Gottes Wille nicht ins Gericht gehen.«
»Was glaubt ihr, werden die Leute sagen?«, keucht der Prior und sieht von einem Gesicht zum anderen. Volmar blickt zu Boden, der Abt verzieht keine Miene.
»›Denn wer das Leben lieben und gute Tage sehen will, der hüte seine Zunge, daß sie nichts Böses rede, und seine Lippen, daß sie nicht betrügen‹«, flüstert sie, ohne dem Blick des Priors zu begegnen. »Desgleichen können wir uns in unserer Anbetung nicht nach Gerede richten.«
»Unserer Anbetung?« Der Prior macht einen Satz auf sie zu, baut sich wenige Schritte vor ihr auf. Sie blickt zu Boden, anscheinend unbeeindruckt von seinem Wutausbruch.
Der Abt und Volmar sind aufgestanden. Kuno legt die Hand auf den Arm des Priors, um ihn zu beruhigen. Es ist Sünde, in dieser Weise den Kopf zu verlieren, obwohl er seinem Prior zugutehalten muss, dass es schwerfällt, von Hildegards Worten unberührt zu bleiben.
»Hildegard«, beginnt er. Der Prior entzieht sich dem Griff seiner Hand und stürmt zum Fenster. Er steht mit dem Rücken zu ihnen, stützt sich mit beiden Händen auf das Fensterbrett.
»Ja?« Ihr Blick ist schwer zu ertragen. Freimütig, durchdringend, offen wie der eines kleinen Kindes.
»Du bekommst noch eine Möglichkeit, dich zu erklären«, sagt er und fordert sie wieder mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. Aber sie ignoriert es und bleibt stehen.
Volmar räuspert sich und muss husten. Der Prior dreht sich nicht um, sein langer Körper bebt. Draußen dringt das Licht in verstreuten Bündeln durch den weißen Himmel.
»Lasst uns erst zusammen beten«, schlägt Hildegard vor und kniet sich hin. Der Abt ist auf dem Stuhl zusammengesunken, auf dem zuvor der Prior saß, ihr Gesicht ist direkt vor seinem.
Niemand kann den Wunsch nach einem Gebet ausschlagen. Volmar kniet, der Abt steht auf, schwankt ratlos von Seite zu Seite, bevor auch er auf dem Steinboden auf die Knie fällt. Nur der Prior bleibt am Fenster stehen. Schweigend warten sie auf ihn, aber er sieht nicht so aus, als wolle er am Gebet teilnehmen.
»Prior Simon?«, sagt der Abt streng. »Willst du nicht am Gebet teilnehmen?«
Der Prior dreht sich langsam zu ihnen um, sein Gesicht ist ein Mosaik aus Rot und Weiß. Er sieht zur Tür, als hoffe er, jemand möge ihm zu Hilfe kommen. Er beugt seinen Kopf und stützt sich gegen die Wand. Dann kniet er sich endlich hin.
Nach dem Gebet erklärt sich Hildegard.
»Die heiligen Schriften berichten ausschließlich von verheirateten Frauen«, behauptet sie. »Denn im Gegensatz zu den unberührten und frommen Frauen im Kloster sind sie der Schlange bereits erlegen. Die Jungfrauen können Eva gleichgestellt werden, bevor sie sich verlocken ließ. Die unberührte Frau ist bewundernswert und erhaben; ungeachtet wie alt sie ist, wird sie voller Kraft in jugendlicher Frische verbleiben. Eine verheiratete Frau ist eine Blume, deren Blütenblätter der Winter genommen hat. Ihre einstmals so unschuldige Schönheit ist verwüstet und zersetzt, und sie darf Gold und Perlen nur in Maßen tragen und ausschließlich, um ihrem Mann zu behagen.«
»Woher weißt du das?«, schnaubt der Prior. »Wer hat dir das gesagt?«
Hildegard schließt die Augen und legt die Hände auf ihr Herz, ohne etwas zu sagen.
»Willst du dem Prior antworten?«, fragt der Abt plump. »Woher hast du dein Wissen über verheiratete
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