Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Neues, aber die Schärfe ihrer Worte und ihre Unbefangenheit verblüffen ihn nach wie vor.
»Du sollst auf das antworten, was du für das Wichtigste hältst«, sagt er und fummelt an dem Kruzifix herum.
»Ich halte beide Teile für vollkommen unwesentlich«, antwortet Hildegard, und der Abt beugt sich vor und lehnt sich über den Tisch. »Aber ich vernehme deine liebevolle Fürsorge für mich wie für deine anderen Kinder, und ich will deiner Sorge gerne abhelfen«, fährt sie fort. »Ich verstand selber nicht, warum ich das Alphabet zu sehen bekam, ebenso wie ich nur eine schwache Ahnung habe, welche göttliche Weisheit in den Zeichen verborgen liegt. Sie besitzen eine Stärke und eine Kraft, von der auch Volmar beeinträchtigt wird. Ich hatte ihn um Hilfe gebeten, weil er in seiner Frömmigkeit die Wichtigkeit der Schauen nie in Frage gestellt hat und weil ich selbst fürchterlich ungeschickte Hände habe, wenn es gilt, einen Kiel zu halten. Die Aufgabe fiel ihm nicht leicht, wie ich bald merkte, obwohl sie noch so einfach war. Er wurde unruhig und unkonzentriert, und du weißt ebenso gut wie ich, dass ihm das nicht ähnlich ist. Deshalb dachte ich, es müsse der besondere heilige Charakter der Zeichen sein, der seine Sinne beeinträchtigt, und entschloss mich, Gott zu fragen, ob ich etwas missverstanden oder übersehen hätte. Unmittelbar darauf wurde ich krank, wie so oft, wenn ich ›Das Lebende Licht‹ geschaut habe. Ichweiß nicht, warum das so ist. Ich glaube, Gott will mich damit strafen, weil ich eine elende Sünderin bin, die Tag für Tag ihr Äußerstes tun muss, um ihm zu behagen und mich ihm auch nur ein wenig zu nähern. Als das Fieber überstanden war, lag ich in meinem Bett, um mich zu erholen, während die Schwestern zur Vesper waren. Ich bat aus meinem ganzen kummervollen Herzen darum, Er möge mir zeigen, was ich mit dem Alphabet tun soll und … besonders mit dem Alphabet. Da war es, dass ich ›Das Lebende Licht‹ und die Offenbarung sah, wegen der ich vor einer Woche zu dir kam, um mit dir darüber zu sprechen.«
Der Abt nickt. Jedes Mal, wenn er mit Hildegard spricht, kommen ihm jähe Zweifel, inwieweit sich hinter ihren vernünftigen Worten ein Splitter des Wahnsinns verbirgt. Sie ist nicht verrückt, wie einige der Brüder es immer wieder andeuten und wofür er sie bestrafen muss. Sie hat eine Gnadengabe, aus der er nicht klug wird. Sie spricht selten mit harten Worten, dennoch kann man sich an ihrer Zunge schneiden. Jedes Mal, wenn er glaubt, er wisse, welchem Weg ihre Rede folgen wird, schlägt sie einen Bogen in eine unerwartete Richtung oder teilt sich entzwei. Er muss sich Mühe geben, seine Verwirrung zu verbergen. Er reibt sich das Kinn, er beugt und streckt den Spann.
»Du bekamst also keine Antwort?«, hakt er nach. Die Frage nach dem abstrusen Alphabet ist der Grundstein seiner Argumentation, und er ist nicht bereit, sie aufzugeben.
»Doch, gerade das war es, was ich bekam«, antwortet sie ruhig. »Gott wünscht, dass wir unsere Liebe zu ihm in allem zeigen, was wir sagen und denken und tun. Er wünscht, den Menschen vor der Verdammnis zu erretten, weil er jede einzelne Seele mit einer Kraft liebt, die die Liebe des Menschen weit übersteigt. Er opferte seinen Sohn für unsere Schuld.« Hildegard treten Tränen in die Augen. »Wie oft weinen wir über die Leiden Jesu? Wie groß ist nicht unser Schmerz darüber, dass Menschen ihm Böses zufügen, indem sie Gott den Rücken kehren? Nur ein Herz aus Stein bleibt davon unberührt, und versteinerte Herzen können nicht einmal die Flammen der Hölle schmelzen lassen«, fährt sie fort. Der Abt wendet den Blick ab. Tränen laufen ihre Wangen herunter, und sie macht sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen.
»Ob Gott mir seine geheime Sprache zeigt, eine Warnung, die den Tod eines Menschen verhindern kann, oder die Kirche in Gestalt einer Frau, alles dient dem gleichen Zweck: uns zu lehren, Gott innig zu lieben und zu fürchten und alles, was wir tun, ihm zu Ehren zu tun. Ich bin überzeugt davon, dass Gott mich wieder an das Alphabet erinnern wird, wenn die Zeit so weit ist«, fügt sie hinzu. »Und zusammen mit den festlich gekleideten Jungfrauen wird es als ein nie endender Lobgesang zum Himmel aufsteigen.«
Der Abt steht auf. Er sucht nach einem Schlupfloch, doch Hildegards Worte sind wie Steine, die sie zu einer Festung aufeinanderlegt. Wäre der Prior hier, würde seine Wut wieder aufflammen, aber das würde nichts ändern.
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