Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
ihnen einfach und verständlich antworten, wie es ist. Gott hat die Menschen auf die gleiche Art nach Hierarchien geordnet wie die Engel. So wie es verschiedene Temperamente und verschiedene Eigenschaften unter den Menschen gibt, so ist auch des Mannes Saat nicht eins«, sagt sie ruhig.
Der Prior zuckt zurück.
»Darin liegt nichts Sonderbares«, sagt sie und nickt wohlwollend. »Gott liebt alle seine Geschöpfe, und nicht zuletzt die Menschen liebt er mit ungeteilter Kraft, und wir sollten danach streben, es auch zu tun. So sollen wir die Kranken aufnehmen, ohne nach Stand oder ihrer früheren Lebensführung zu unterscheiden. Darum behandeln wir sowohl die Hure wieauch die Hausfrau. Trotzdem müssen wir die verschiedenen Ordnungen getrennt halten, um zu vermeiden, dass sich die niederen Ordnungen über die höheren erheben und Unruhe in der Hierarchie schaffen. Das Einzige, was dabei herauskommt, ist Zerstörung und letzten Endes Untergang. Wer wollte all die Tiere, die Gott erschaffen hat, in denselben Pferch sperren? Rinder, Esel, Schafe, Gänse, Zicklein und Schweine? Auf die gleiche Weise kann man fragen, was Adelstöchter und Bauerntöchter unter einem Dach zu tun haben.«
»Unter den Brüdern unterscheiden wir nicht«, sagt der Prior fest. »Das ist nie notwendig gewesen.«
»Nein«, Hildegard sieht von Volmar zum Abt, »aber ihr seid Männer, und wir sind Frauen, geboren um eurer überlegenen Stärke und Klugheit unterworfen zu sein. Wir besitzen nicht die seelische Stärke, die es braucht, Brücken über die Klüfte zu schlagen, die Gott geschaffen hat.«
Wieder bleiben die Männer stumm. Der Prior hat das nagende Gefühl, Hildegard habe sich an ihn herangeschlichen und einen Strick um seine Beine geschlungen. Jetzt kann sie daran ziehen und ihn umwerfen, bevor er reagieren kann. Sagt er mehr, wird er als dumm und ungelehrt dastehen, antwortet er nicht, wird es aussehen, als gebe er ihr recht. Er ist dankbar, als ihm Volmar zu Hilfe kommt.
»Vielleicht möchten der Prior und der Abt diese Angelegenheit allein besprechen. Ein so ernstes Anliegen darf nicht übereilt entschieden werden.«
Hildegard faltet stumm die Hände über dem Bauch und wippt auf den Füßen vor und zurück. Der Abt sieht aus, als sei er ganz woanders und höre kaum, was Volmar vorschlägt. Der Prior jedoch zögert nicht, die ausgestreckte Hand anzunehmen.
Nach sieben Tagen wird Hildegard in das Arbeitszimmer des Abts gerufen. Dieses Mal ist weder der Prior noch Volmar anwesend, und der Laienbruder, der sie einlässt, wird weggeschickt.
»Zuerst möchte ich mit dir über das Alphabet sprechen, Lingua ignota «, sagt der Abt langsam. Hildegard nickt stumm.
»Es ist nicht mehr als ein paar Wochen her, dass Volmar um Erlaubnis bat, mit deiner Hilfe ein geheimes Alphabet und eine geheime Sprache niederzuschreiben, die dir angeblich offenbart wurde. Er sprach so gut, dass ich euch die Erlaubnis erteilte, damit zu beginnen. Inzwischen verstehe ich Volmar so, dass dabei nichts herausgekommen ist.«
»Es war schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte, ehrwürdiger Vater«, antwortet Hildegard kurz.
»Warum? Wenn du die Zeichen so deutlich gesehen hast, ist es wohl ein Leichtes, sie niederzuschreiben. Ich bin beinahe geneigt zu glauben, du brauchtest Volmars Hilfe gar nicht.«
»Ich lese besser, als ich schreibe«, antwortet Hildegard schroff.
»Ich habe geglaubt, es ginge um die Grammatik dabei, aber das kann nicht der Fall sein, wenn dir in einer Schau sowohl Grammatik als auch Buchstaben geschenkt wurden.«
»Ich sah die Buchstaben, und ich hörte einige Worte, aber Lingua ignota ist eine Sprache, die nicht die lateinische Grammatik anwendet, da sie nur aus Hauptwörtern besteht«, erklärt sie.
»Das ist doch wohl ohne Bedeutung?«, fragt der Abt und rückt das Elfenbeinkruzifix auf dem Tisch zurecht. »Wenn du nur Zeichen und Worte schreiben sollst?«
Hildegard antwortet nicht. Sie lässt den Blick auf ihm ruhen, aber antwortet nicht.
»Hast du nichts zu sagen?«
»Es kommt mir vor, als ob du deine eigentliche Frage hinterdeinen Worten versteckst«, sagt sie unverblümt, »und ich weiß nicht, ob ich auf das eine oder das andere antworten soll. Du fragst mich nach den Buchstaben, willst aber wissen, warum ich Volmars Hilfe brauche. Du bittest mich, von der Grammatik zu sprechen, aber du fragst in Wahrheit nach dem Verhältnis zu meinem Lehrer.«
Der Abt nickt. Dass Hildegard ihre Sache so gut vorträgt, ist nichts
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