Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
Vom Netzwerk:
Es ist unmöglich, Hildegard zu widersprechen. Ganz egal, was er vorbringt, sie hat eine Antwort, die seine Auffassungsgabe übersteigt und die deshalb von Gott kommen muss. Er hat selbst nichts dagegen, dass Hildegard nur Adelsfrauen im Kloster haben will. Dass sie sich schön und kostbar kleiden sollen, werden ihre Familien nur begrüßen. Sie profitieren von den Gerüchten über Hildegards besondere Fähigkeiten und fassen die Anwesenheit ihrer Töchter am Disibodenberg als ehrenvoll auf. Die meisten haben große Summen als Mitgift bezahlt. Seidenkleider können sie sich ohne weiteres leisten, und Goldkronen sind keineschlechte Art und Weise, Reichtum zu bewahren. Das Problem ist, dass er den Prior nicht überzeugen kann. Und es ist schwierig, die Brüder zum Schweigen zu bringen, wenn ihnen alles genommen wird, sobald sie über die Schwelle des Klosters treten, und sie immerfort an ihre eigene Armut erinnert werden. Die Frauen in prächtigen Gewändern gegenüber den zerschlissenen, schwarzen Kutten der Brüder zu sehen wird das Gerede kaum verstummen lassen. Um dem Prior und seinen Unterstützern gefällig zu sein, hat der Abt Hildegard nach Juttas Tod verboten, Pilger zu empfangen. Seelsorge soll nicht ihre Angelegenheit sein, und fromme Brüder haben die Gespräche mit den Reisenden übernommen. Im Infirmarium fragen die Kranken nach ihr, aber der Prior hat verlangt, niemand dürfe Hildegard mit den Gerüchten schmeicheln, die über sie im Rheintal im Umlauf sind. Der Abt wandte ein, es liege nicht in Hildegards Art, sich von Schmeicheleien blenden zu lassen, aber der Prior blieb hart. Deshalb wird sie in der Regel von einem der älteren Brüder begleitet, wenn sie unter den Kranken arbeitet. Nicht, um sie im Auge zu behalten, sondern um das Gerede der Patienten zu überwachen. Der Abt versinkt in Gedanken. Glauben ist auch stillzuschweigen, sagte der Prior, und der Abt gab ihm recht. Hildegard holt ihn mit einem trockenen Husten zurück.
    »Du hast meine Erlaubnis«, sagt er. Nicht ein Wort mehr.
 
    Die Kleider können die Schwestern selbst nähen, die Kronen dagegen müssen bei einem Goldschmied in einem Kloster in der Nähe von Trier bestellt werden. Bei den Mädchen wird an den Köpfen Maß genommen, und sie zerspringen beinahe vor freudiger Erwartung, als das erste Probeexemplar aus billigem Eisen ankommt, mitgebracht von dem Bruder, der als Botelosgeschickt wurde. Hildegard wickelt die Krone aus dem Stoff, in den sie eingepackt ist. Sie hält sie vor sich hin, ruft Richardis zu sich und krönt deren Kopf damit. Dann schüttelt sie unzufrieden den Kopf. Sie ist nicht so, wie sie sie haben will. Sie ist zu klobig und zu schwer, und selbst wenn sie aus Gold gefertigt und mit den schönsten Steinen besetzt wäre, würde sie nicht so sein wie jene, die sie vor sich sah. Sie versuchte wirklich, es dem Mönch begreiflich zu machen, der losgeschickt wurde. Sie konnte sie nicht mit ihren Händen zeichnen, beschrieb sie aber so lebendig mit ihren Worten, dass alle, die es hörten, sie vor sich sehen mussten. Trotzdem ist es schiefgegangen, und sie stürzt quer über den Hof und klopft mit der Krone in der Hand an die Tür des Abts.
    Sie legt sie vor ihm auf den Tisch, nachdem der Laienbruder sie hereingelassen hat. So ruhig und gefasst sie war, als sie ihre Sache dem Abt und dem Prior vortrug, genauso aufgebracht ist sie jetzt. Sie lässt sich darüber aus, wie hoffnungslos schlecht die Krone und wie unmöglich es ist, dass jemand ihre Zeit damit verschwendet hat, ein so minderwertiges Handwerk auszuführen. Der Abt dreht und wendet die Metallkrone in seinen Händen.
    »Sie wird sicher fein, wenn sie aus Gold gemacht wird«, versucht er es, aber sie schnaubt verächtlich. Gut und schön, Gold schimmert in einem Glanz, der den Gedanken auf die Pracht des Himmelreichs lenkt. Eine so klobige Form kann jedoch nicht einmal das feinste Material retten. Der Abt schlägt vor, den Boten noch einmal loszuschicken, doch Hildegard stemmt die Arme in die Seiten. Sie will den Weg selbst auf sich nehmen. Und obwohl der Abt es ihr verweigert und der Prior den Kapitelsaal später wutschnaubend verlässt, kommt es so, wie Hildegard es wünscht.
 

 

6
      
Es ist mehr als dreißig Jahre her, dass Hildegard das Kloster von außen gesehen hat. Mehr als drei Jahrzehnte, seit sie zusammen mit Jutta an diesen Ort kam, der damals noch im Bau war, jetzt aber einem abgeriegelten Königreich gleicht, das die Arme um seine Kinder

Weitere Kostenlose Bücher