Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
schlingt. Das Tor wird hinter dem halb abgedeckten Wagen zugeworfen. Volmar wollte nicht mit nach Trier, und Hildegard drängte ihn nicht. Sie weiß, er tut klug daran, behutsam vorzugehen und nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen in einer Zeit, in der die Klostermauern von böswilligem Gerede nahezu vibrieren. Hildegard betet die ganze Zeit über, aber sie hat keine Angst. Sie kann sehen, dass der Abt besorgt ist, obwohl er nichts zu ihr sagt. Den Brüdern gegenüber tut er so, als gebe es nichts Besonderes, und das ist vielleicht auch das Beste. Er spricht nie mit ihr über das, was ihm Sorgen bereitet, aus Angst, ihre Worte würden es nur schlimmer machen. Hildegard hat Gott um Rat gefragt und sich selbst Schweigen gelobt, was wichtige Angelegenheiten angeht, bis sie seine Antwort deutlich hört.
Es ist Anfang März. Es ist einer der ersten milden Tage im Jahr. Die Luft erzittert von der sprießenden, grünen Kraft der Welt. Der Wind schlägt ihr ins Gesicht, sie hält den Rücken gerade, auf dem steilen Weg fasst der Kutscher die Zügel kurz, die großen Tiere schlagen mit den Schweifen, wedeln den scharfen, süßen Geruch nach Tier und Pferdedung zu den Passagieren. Bruder Heine begleitet sie. Sie kennt ihn kaum, obwohl er beinahe genauso lange im Kloster lebt wie sie selbst. Er spricht selten, seine Hände zittern.
Der Fluss blendet, in der Sonne muss sie die Augen zusammenkneifen. Es ist spät am Vormittag, und Tauwetter hat eingesetzt. Die plötzliche Wärme hat den Fluss befreit, die Eisschollen gleichen großen, aufgespannten Tierhäuten. Es funkelt im Wasser, der Fluss ist aus Gold, das man mit den bloßen Händen scheffeln kann.
Dreißig Jahre lang hat sie kaum an die Welt außerhalb von Disibodenberg gedacht. Sie hat die Häuser, die Bäume, die Menschen, die Tiere, die ganze gewaltige Welt gelöscht, die nun Rache nimmt und auf sie eindringt. Das Dorf verschwindet in einem Gestank nach Urin und schmutzigen Kindern. Die Stämme im Wald sind unnatürlich hoch, vor dem Himmel gleichen ihre Kronen lose gewebtem Stoff.
Hildegard betet die ganze Zeit. Sie hält Juttas Rosenkranz zwischen den Händen, die Welt wächst aus ihren Augen und Ohren heraus: eine Radspur, das Dickicht, Landstreicher und Vagabunden mit nackten Füßen. Ein Gebet für jede Perle im Kranz, einmal hielt sie auf einer solchen Fahrt Juttas Hand, einmal verschlug ihre Schönheit ihr die Sprache.
Als sie sich Trier nähern, zeigt sie stumm in alle Richtungen, aber Bruder Heine schläft und bekommt nichts mit. Sieh die Ziegen, sieh den Jungen, sieh den Mann mit dem Stock, der einen Bären an der Kette führt, sieh den Ochsen und die Erde und das Kind, das ganz alleine auf dem Weg steht und weint. Einmal war sie selbst ein Kind, das vor Einsamkeit weinte und mit dem Mond sprach. Sie denkt an Hildebert und Mechthild, denkt an ihre Geschwister und die Ausflüge nach Mainz während ihrer Kindheit. Denkt an einen Bruder, der verschwand, an eine Schwester, die starb, versucht, sich an die Namen der Mägde und Knechte zu erinnern, und wird unruhig, als sie nicht gleich auf Agnes' Namen kommt. Als sie ein Kind war, hatte sie Hunde, und Hildeberts Pferde waren die schönsten der Welt. Sie ritt mit ihrem Vater durch den Wald, die Bäume seufzten,die Steine sangen mit kalten und wehmütigen Stimmen. Als sie das Zuhause ihrer Kindheit verließ, erzählte der Kutscher, ein Kind wohne alleine im Wald. Es war ein Mädchen in ihrem Alter, das wild umherstreifte und bei den Tieren schlief. Ab und zu meinten die Leute, sie gesehen zu haben. Mit der Zeit war ihre Haut fleckig geworden, grün und braun und schwarz, bis sie eins war mit dem Wald. Im Winter ließ der Schnee ihre Wimpern wachsen, und sie wurden dick und borstig wie Tierhaare.
Hildegard verliert sich in Erinnerungen. Die Sonne steht tief am Himmel, lässt alles silberfarben schimmern, die Steine, die Pferde, den Wagen, den Weg, sogar die Haut. Alles wird vom Licht zusammengebunden und glitzert in der lebenspendenden Kraft. Als sie sich dem Stadttor von Trier nähern, ist da jemand, der auf den Wagen zeigt, jemand, der lacht, jemand, der sich vor ihr verbeugt. Ein Mädchen treibt Gänse vor sich her, ein dünner Hund ähnelt einem Wolf, er gehört zu einem Handelsreisenden mit einem Handkarren, beladen mit schmutziger Wolle. Die Klostermauer und das offene Tor verschlingen Menschen, der Kirchturm ist hundertmal höher als der Turm der Klosterkirche am Disibodenberg, graue und braune
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