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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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selbst aber erträglicher. Sie zwingt sich dazu, mit den Schultern zu zucken, als das Mädchen im Frühjahr bald mit der einen Schwäche, bald mit der anderen Krankheit ans Bett gefesselt ist. Sie steht im Krankenzimmer, die Hände in die Seiten gestemmt, und stößt Anordnungen aus, wie das Kind zu behandeln sei, lässt Agnes über sie wachen, wenn sie kein zusätzliches Paar Hände im Haushalt braucht. Dennoch sitzt sie in der Falle, sobald das Kind im Fieberwahn spricht. Dann zieht sich ihr Inneres zusammen, und sie kann das Kind nicht alleine lassen. Aber hat sich das Fieber gelegt, lässt sie sich willig von Haushalt und Hofwirtschaft in Anspruch nehmen. Sie hat sich entschieden, den Nutzgarten zu erweitern, und muss die ganze Zeit ein Auge darauf haben, dass ihre Anweisungen, wie die Beete anzulegen sind, befolgt werden. Sie hält Clementia und Benedikta an der kurzen Leine. Sie sollen alles in so kurzer Zeit wie möglich lernen. Sie geht auch dagegen an, dass die Mädchen weiter an Vater Cedrics Unterricht teilnehmen. Hildebert protestiert nicht. Wenn er denn in Bermersheim ist, spricht er die meiste Zeit über mit dem Verwalter, beaufsichtigt das Pflügen der Felder und sieht nach der Reparatur der Südmauer, in die der Frost Risse gebrochen hat. Nach der Abendmahlzeit wünscht er, nicht mit Kleinigkeiten belästigt zu werden.
 

 

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Hildegard ist krank und fragt nach ihrer Mutter, aber sie kommt nicht. Von Agnes erfährt sie, worum sich Mechthild kümmert: Im Frühjahr hat sie viel Arbeit im Garten, im August müssen die Pflaumen zum Trocknen ausgelegt werden. Wenn Hildegard gesund ist, kommen ihr die Tiere im Stall zu Hilfe. Sie nicken Mechthild so freundlich zu, dass sie milde gestimmt wird und ihre jüngste Tochter an der Hand nimmt. Nachts schläft Hildegard mit dem schwarzen, glatten Stein, den Mechthild unlängst aus dem Bach gefischt hat, in ihrer Hand.
 
    Jede Jahreszeit hat ihren eigenen Klang. Hildegard hat so oft alleine im Zimmer auf ihrem Bett gelegen, dass sie sie allesamt kennt. Wenn die Bäume und Büsche in knisternden Herbstfarben glühen, wenn die Luft süß und schwer vom Duft der Äpfel ist, von nassen Stängeln und Blättern, die mürbe werden, dann klingt das Brüllen der Kühe doppelt so laut, steigen das Wiehern der Pferde, Schritte und Stimmern lärmend und gellend durch das Fenster. Jede Jahreszeit hat ihren eigenen Klang. Der des Herbstes kündigt den Winter an, trägt die ersten Schneeflocken, die erst unhörbar auf die Erde sinken und dann zu Mustern aus Reif sprießen, die die stoppeligen Felder, das Gras und das Dach mit einem dichten Pelz überziehen. Manche Jahre kommt der Winter plötzlich, eine harte und kalte Klinge, direkt durch die Wolken. Der Schnee bricht über das Land herein, legt sich in Haufen an die Mauern, fegt durch Fenster, unter Türen hindurch, hinterlässt nasse Lachen auf dem Boden. Andere Male kommt die Kälte schleichend, heimtückisch, bringt den Duft des Herbstes dazu, sich zusammenzukrümmen und in grünlichen Tönen aus Frost und Schimmel zu verschwinden, kriecht die Mauer hinauf, schlägt in zerbrechlichen Eisblumen an der Wand aus. Frost und Schnee pressen das Leben aus Stimmen und Schritten, pfeifend und jammernd dringen sie durch Fensterläden und Vorhänge. Nur das Frühjahr mit seiner hemmungslosen, lebendigen Kraft kann den Frost aus der Erde verjagen, lässt seine Klänge durch alles rinnen, das saftig sprießt und grünt. Hildegard wartet sehnsüchtig darauf, der Sommer möge kommen, raschelnd, in seinen mit Juwelen besetzten Kleidern; die Hitze, die wie Wasser über das Gesicht läuft: jemand, der laut lacht; der Hahn, die Hühner, klappernde Hufe; der Milcheimer, der umfällt und einige Schritte rollt; die schallende Ohrfeige für die Melkerin, die noch ein paar Augenblicke lang in der zitternden Luft singt. Der Klang des Sommers steigt hinauf in den unendlichen Himmel. Der Sommer baut Treppen aus Wärme und Sonne, und Hildegard kann die mächtige Pilgerkirche in Rom vor sich sehen, die Kirche des Papstes, die ihr Drutwin einmal so lebhaft beschrieben hat, als sei er selbst dort gewesen. Sie wacht auf, sie schwitzt, sie schläft am Tag. Wenn sie alleine in der Kammer ist, sieht sie die Klänge menschliche Gestalt annehmen und freut sich daran. Das abendliche Klagen der Kühe wird zu breiten, stämmigen Frauen mit von der Sonne gebräunten Händen und runzeligen Gesichtern. Ein plötzliches Zwitschern der Vögel, die vom Dach des

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