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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Hildegard sah ihn und sah ihn gleichzeitig nicht. Er war da, das weiß sie, aber sie kann es nicht erklären. Er zog den Tod in einer nach Verwesung stinkenden Wolke hinter sich her.
 
    Danach sickert schwarze Galle durch Hildegards Fleisch, färbt ihre Lippen mit Blaubeersaft. Sie friert unter Daunendecken und Wolldecken. Mechthild wacht über ihr Kind, wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war, wacht aus Angst davor, Hildegards im Fieberwahn gesprochene Worte könnten anderen zu Ohren kommen.
 
    Hildegard, schweig still, hörst du? So schweig doch still, oder ich binde dir einen Lappen vor den Mund.
 
    Als sie zwei Wochen später Nachricht erhalten, dass das Küchenmädchen in den Wehen liegt, eilt Mechthild mit Hildegard an der Hand durch das Dorf zu ihrem Haus. Das Küchenmädchen liegt auf Decken auf dem mit Stroh bedeckten Boden im einzigen Raum des Hauses. Es ist bereits überstanden, sie stiert gegen die schiefen Bretter der Wand, dreht sich nicht zur Frau des Hofes und ihrer verrückten Tochter um.
 
    Hildegard wendet das Gesicht von dem toten Kind ab. Es liegt unter einer zerlumpten Wolldecke, als fürchteten sie, es könne frieren. Mechthild ist in ein Haus voller Verzweiflung eingebrochen, murmelt Gebete, zieht die Decke von dem Kleinen. Blau und hässlich ist die Totgeburt, missgebildet wie ein Teufelskind. Die Niedergekommene zittert vor Angst.
 
    Sie jammert und beteuert wieder und wieder, sie habe nichts falsch gemacht. Mechthild schickt alle Frauen aus dem Raum, hält aber ihre Tochter so fest an der Hand, dass sie nicht wegkommen kann. Mechthild zeigt auf das Teufelskind. Sie will eine Erklärung haben, damit sie nicht befürchten muss, es sei die Schuld ihrer Tochter.
    »Ist es der Vater? Ist er es? Hast du gesündigt? Hast du?«
    Es nützt alles nichts, das Küchenmädchen schluchzt und blutet so heftig, dass sich die dunkelroten Flecken auf der Decke immer weiter ausbreiten. Mechthild lässt die Frau rufen, und sie drücken fest auf den Bauch des Küchenmädchens, um einen Damm herzustellen, der das Blut aufhalten soll.
 
    »Schweig still, schließ die Tür, schweig still.«
    Auf ihr Geheiß springt Hildegard hierhin und dorthin und wieder zurück, während das Teufelskind tot unter der Decke liegt und das Leben aus dem Küchenmädchen sickert, das sich an der Wand zusammenkrümmt.
 

 

18
      
»Hildegard wird im Sommer acht«, sagt Mechthild, während sie mit der Hand Krumen zusammenkehrt. Da Hildebert nur mit einem Grunzen antwortet, fährt sie fort.
    »Wir haben sie der Kirche versprochen, als sie noch ein Säugling war, und der Herr hat sie am Leben gelassen …« Sie verstummt. Die Worte, die noch einen Moment zuvor klar und deutlich in ihren Gedanken waren, verschwimmen, als Hildebert sich mit plötzlicher Heftigkeit aufrichtet.
    »Nichts ist beschlossen.« Warnend hebt er die Hand, aber Falk achtet nicht darauf und stößt seinen Herrn weiter mit der Schnauze an, um einen Happen von seinem Brot zu erbetteln. »Jetzt, da sowohl Roricus als auch Drutwin Ordensbrüder sind, schulden wir der Kirche nichts mehr«, spricht er weiter und versetzt dem hartnäckigen Hund einen Tritt, dass der sich trollt.
    »Nein, aber …« Mechthild weiß, ist er erst einmal in Rage, ist nicht mit ihm zu reden. Wenn sie die Augen schließt, tauchen die Worte, die sie sich zurechtgelegt hat, wieder auf, aber sie sind nichts als Staub, der im Sonnenlicht wirbelt.
    »Eines von zehn Kindern der Kirche zu geben, das ist der Zehnte«, belehrt er sie, »das ist unsere Pflicht, zwei sind eine Dreingabe, aber drei …« Er breitet herausfordernd die Arme aus.
    Der Ärger über seine herablassende Belehrung pocht in ihrem Hals.
    »Aber Hildegard wird nicht kräftiger.« Sie hält es nicht aus, still zu sitzen, steht auf und stößt gegen den Hund, der ihr plump und klobig den Weg versperrt. Die Art, auf die er sie zum Narren gehalten und um Drutwin gebracht hat, nagt immer noch an ihr. Ab und an erwischt sie sich dabei, wie Rachegelüste ihrem Mann gegenüber in ihr aufsteigen, obwohl sie weiß, dass es Sünde ist. Doch sie würde kein Mitleid haben, wäre er einmal dem gleichen Schmerz ausgesetzt, der gleichen bitteren Leere, die in ihr wohnt.
    Hildebert reibt sich den Nacken, rutscht ein wenig auf dem Stuhl herum, antwortet ihr aber nicht. Mechthild gibt demDienstmädchen mit einer Handbewegung ein Zeichen, sie solle verschwinden. Sie fürchtet, dass Hildebert von der Liebe zu seinem jüngsten Kind

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