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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Stalls abheben, wenn die Pferde nach draußen geführt werden, verwandelt sich in junge Mädchen mit dicken, dunklen Locken, die sich um ihre ernst dreinblickenden Gesichter ringeln. Der spröde Klang der Kapellenglocke stößt mit dem Abendgeläut aus dem Dorf zusammen, wird zu einem schwarz gekleideten Mönch mit kahlem Schädel. Ihm folgt Drutwin, sie reisen auf einem Pferderücken, sie verschwinden weit weg in ein fernes Land, dessen Namen Hildegardnicht kennt. Die Frauen, die Mädchen, der Mönch, Drutwin, sie selbst, sie drängen sich auf der breiten, blanken Steintreppe der Kirche zusammen, bewegen sich auf die prächtigen Kirchentüren zu, die strahlen und funkeln, weil sie aus purem Gold sind. Erst mit dem Herbst werden alle die Türen erreicht haben, und da ist es, als flammten die Klänge auf, als wollten sie protestieren, bevor sie vom Winter in Ketten gelegt werden.
    Dann summt der Hof von Erntearbeitern, klirrenden Töpfen und Krügen, Bierkannen, die in andere Hände wechseln, Gelegenheitsarbeitern, die unter dem Zeltleinen auf dem Hofplatz schlafen. Und die Türen der päpstlichen Kirche werden weit geöffnet, wenn die Ernte eingebracht ist. Die Nacht ist ein Band, das nach Getreide duftet, ein Freudenfeuer aus Trommeln und Tamburinen, aus Gesang und tanzenden Schritten. Dann steht Hildegard zusammen mit den Pilgern auf der obersten Stufe, inmitten einer warmen und sanft drängenden Herde aus Gesichtern, die brennen vor Erschöpfung und Freude darüber, endlich angekommen zu sein. Nach dem Erntefest ersterben die Stimmen allmählich, und obwohl es nur die gewöhnlichen Tage sind, die zurückkehren, klingen sie, als seien sie schon kraftlos und tot.
 
    Mechthild ist wie ein Bach, der mal anschwillt, mal trocken wie eine abgeworfene Schlangenhaut daliegt. Hildegard versteht, dass jeder Bach dem Rhythmus aller Dinge folgen muss. Der Himmel schenkt Regen, schenkt Sonne, schenkt die zerbrechliche Kruste aus Eis, die von Regen und Sonne wieder aufgelöst wird.
    Sie wünschte, der Bach bei Bermersheim wäre wie der große Rhein. Wenn der Schnee schmilzt und der Bach anschwillt, stellt sie sich vor, sie wohne wirklich an einem Fluss.
 
    Im Frühjahr bekommt sie Nasenbluten. Einmal wird es so schlimm, dass das Blut die Kehle hinunter- und aus dem Mund herausläuft. Agnes ruft Mechthild, die sofort herbeieilt. Sie drückt Hildegards Kopf an sich, hält ihr die Nase zu, während das Kind spuckt und spuckt. Blutsprenkel breiten sich auf Mechthilds Kleid aus, und sie zieht die Brauen zusammen.
    Hildegards Blut ist wie ein Fluss, der direkt durch Mechthild hindurchläuft, und sie kommt zurück. Sie sitzt wieder am Bett ihrer Tochter und streichelt ihre Stirn. Der schwarze Stein gleicht einem Pferd, und Mechthild lässt ihn über Hildegards Arme und Hände galoppieren.
 

 

16

Oktober 1105
    Schon seit einiger Zeit nimmt Hildebert Drutwin nicht mehr mit nach Sponheim. Eines Morgens Anfang Oktober befiehlt er dem Jungen, sich anzuziehen, noch bevor das erste Tageslicht am Himmel erscheint. Er weckt Mechthild, damit sie sich von ihrem Sohn verabschieden kann. Zuerst versteht sie nicht, was er sagt, glaubt, er habe seinen zweitältesten Sohn begnadigt und will im Morgengrauen mit ihm nach Sponheim reiten. Dann dringen die Worte langsam zu ihr durch: Drutwin soll ins Kloster. Hildebert will ihn nach Frankreich schicken, er hat ein günstiges Abkommen mit den Mönchen in Cluny geschlossen. Mechthild jammert und rauft sich die Haare.
    »Das kannst du mir nicht antun«, weint sie, während der Junge bleich und schlaftrunken am Tisch sitzt.
    Dass er sich nicht zum Ritterhandwerk eignet, ist längst offensichtlich, sogar für sie. Aber die Sorge um seine Zukunft hatsie nicht davon abgehalten, sich in aller Stille darüber zu freuen, ihren zweitältesten Sohn auf dem Hof zu haben. Hildebert hat sie hintergangen, ist um sie herumgeschlichen wie ein Jäger, der sich an eine Hirschkuh heranpirscht. Sie ist wie benommen und hat keine Möglichkeit mehr, einzugreifen, steht auf nackten Füßen im Speisesaal und klammert sich an ihren Sohn. Sie will ihn nicht loslassen, obwohl er versucht, sich von ihr freizumachen. Hildebert hebt die Hand, als wolle er sie schlagen, aber sie drückt den Jungen fest an sich, drückt seinen dürren Körper, der keinerlei Anzeichen macht, sich in den eines Mannes verwandeln zu wollen, obwohl er schon sechzehn Jahre alt ist. Drutwin fleht sie an. Er schubst sie von sich weg und sitzt mit

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