Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
über das sie wacht, und er begreift nicht, warum.
Hildebert ist froh darüber, dass Hildegard gescheit ist, aber sie soll nicht über die Wachstafel und die Bücher gebeugt sitzen, bevor sie acht ist. Mechthild versteht nicht, warum er so streng daran festhält, muss sich aber fügen. Sie überlegt, Agnes fortzuschicken oder ihr wenigstens andere Aufgaben zu geben, als Hildegards Kindermädchen zu sein. Aber als sie dem Kindden Gedanken anvertraut, sie solle bei ihren Schwestern schlafen und Agnes solle anderweitig im Haus zur Hand gehen, bricht die Kleine in Tränen aus. Am selben Abend hat das verteufelte Fieber sie wieder gepackt, und Mechthild beginnt beinahe zu glauben, das Kind habe einen bösen und starken Willen, mit dem sie das Gleichgewicht ihrer Körpersäfte nach Belieben lenken kann. Sie verweigert sich, am Abend bei ihr zu sitzen, schickt Clementia und nimmt den Bericht vom Krankenbett entgegen, ohne eine Miene zu verziehen.
Hildegard führt sich auf, als sei sie die Königin selbst. Mechthild will ihr eine Lehre erteilen und lässt sie die meiste Zeit alleine daliegen. Vier Tage verbringt das Kind im Bett, bevor das Fieber weg ist. In der Zwischenzeit hat Mechthild sowohl Agnes als auch die anderen Kinder ermahnt: Hildegard darf keine anderen Geschichten hören als die, die der Priester erzählt, es darf in ihrer Nähe nichts anderes mehr gesungen werden als Psalmen.
Bis Mitte Dezember schneit es nur nachts, und im Laufe des Tages ist der Schnee bereits wieder geschmolzen. Den Rest des Monats und den ganzen Januar über ist die Landschaft von einer weißen Decke überzogen. Der Winter lässt die Welt schrumpfen, der Schnee dämpft die Geräusche, unter dem Eis verstummt der Bach. Die Sonne zeigt sich nur selten am Himmel, und dann steht sie so niedrig, dass die Schatten ausfransen und unscharf werden. Der Wald schließt sich dichter um das offene Land, um den Hof vor umherstreifenden Tieren zu schützen. Die Unbeweglichkeit des Winters legt sich auch über die Menschen auf dem Hof, setzt sich wie Trockenheit in die Kehle und den Rachen, wie Gehässigkeit und Trägheit in den Körper. Herrscht strenger Frost, dann ist draußen nicht vielzu tun. Christi Geburt feiern sie mit Mäßigung, denn Hildebert begleitet den Herzog nach Trier, und Mechthild findet, es sei so am besten.
Hildegard ist gesund, und Mechthild behält sie im Auge. Sie darf mit ihrer Mutter zu den Tieren gehen und nach ihnen sehen, aber ansonsten hält Mechthild sie auf Abstand. Hildegard darf nicht länger neben ihrer Mutter am Tisch sitzen, sondern bekommt einen Platz am anderen Ende zugewiesen, so weit entfernt von Mechthild wie möglich. Mechthild wünscht sich, das Kind möge verstehen, dass es eine Strafe ist, aber darauf deutet nichts hin. Härter kann sie sie nicht bestrafen, ohne Hildebert erklären zu müssen, worin die Untat des Kindes besteht, und das kann sie nicht. Dass sie sich bei der Vorstellung, von Agnes getrennt zu werden, selbst ein Fieber auferlegte, kann sie nicht sagen. Das Kind müsse lernen, seine Fantasie im Zaum zu halten, taugt ebenfalls nicht. Wenn sie es sich nicht einmal selbst erklären kann, wie soll sie es dann Hildebert gegenüber rechtfertigen können? Ihrem Mann, der fortreitet und Anfang Februar zurückkommt, der eine schmutzige schwarze Spur über die weißen Felder zieht. Dem Vater, der seiner Jüngsten verschwenderisch viele Geschenke mitbringt, Perlen, Holzfiguren, ein kleines aus einem Knochen gefertigtes Messer. Dem Kind bedeuten die Dinge nichts, sie gefallen ihm nicht einmal. Sie gibt sie weiter an ihre neidischen Geschwister, sobald sie Gelegenheit dazu hat. Es würde Mechthild nicht wundern, wenn sie es nur aus schierer Berechnung täte. Gäbe sie ihnen nichts, würden sie noch neidischer werden und sie wegen ihrer Schwächlichkeit und ihres merkwürdigen Verhaltens schmähen und verhöhnen. Oft ärgert sich Mechthild, wenn Hildegard dasitzt und ins Sonnenlicht starrt, doch es ist nichts im Vergleich zu ihren anderen Kindern, die aufihre Schwester anspringen. Drutwin ist der Einzige, der in der Regel Geduld mit ihr hat und sanft zu ihr ist. Sie spazieren umher und sprechen miteinander, nur Gott weiß, worüber. Aber Hugo peinigt und plagt seine Schwester und stachelt auch Irmengard und Odilia an mitzumachen. Mechthild tut so, als bemerke sie es nicht, denkt, es werde Hildegard abhärten.
Mechthilds Härte bewirkt keinerlei Veränderung im Gemüt des Kindes, macht es für sie
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