Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
gar kein Haar, aber Jutta streicht sich mit beiden Händen über den Kopf, sodass die dünnhaarigen Flecken verdeckt werden. So steht sie mit nackten Füßen da und sieht zu, wie Uda Hildegard zurechtmacht, folgt den eiligen Bewegungen des Kamms durch das blassrote Haar, so unerbittlich, dass Hildegard Tränen in die Augen steigen, obwohl sie keine Miene verzieht. In dem weißen Kleid gleicht Hildegard einem überirdischen Wesen, während Jutta zu einer Birke ohne Blätter wird. Der Boden unter ihrenFüßen ist eisig kalt, es tut weh, einen Schritt zu machen, aber es ist noch schlimmer, still zu stehen. Hildegard verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, wieder und wieder, um die Kälte zu vertreiben, bis Uda die Hände schwer auf ihre Schultern legt, sodass sie wieder still stehen muss. Sie drückt den Strohkranz fest um ihren Kopf, tritt einen Schritt zurück und nickt. Jutta nickt auch, kleine hellrote Flecken treten auf ihren Wangen und am Hals hervor.
Sie gehen barfuß über den Platz vor der Kirche, die Kälte schneidet wie ein Rasiermesser durchs Fleisch. Jutta geht quer durch die Schneewehen, Hildegard folgt ihr, das Messer knirscht. Eine alte Frau aus dem Dorf kommt im letzten Augenblick herbeigehumpelt, sie steht vor der Tür und bürstet Schnee von ihrer Schürze. Als die Mädchen sich nähern, geht sie zuerst auf die Knie und fällt dann vornüber, sodass sie bäuchlings auf der gefrorenen Erde liegt. Hildegard zögert, aber Jutta würdigt die Alte keines Blickes. Erst als sie direkt vor ihr sind, sieht Jutta sie an. Sie berührt sie mit dem Fuß, die Alte hebt den Kopf und rollt mit den Augen, als sei sie krank oder verrückt. Jutta stößt sie noch einmal mit dem Fuß an, sagt aber nichts. Hildegard geht neben der Alten in die Hocke. Uda zieht an Hildegards Arm, aber sie will nicht aufstehen und die Alte einfach liegen lassen. Die Frau kommt wieder auf die Knie, sie ergreift die Hand des Kindes und drückt sie gegen ihre Lippen. Dann steht sie schwankend auf, stützt sich gegen die Mauer, ihr Gesicht ist nass vor Tränen. Hildegard will sie trösten, aber Uda zieht an ihr, bis sie mitgeht.
Die Glocke schlägt einen tiefen und einsamen Schlag, zwei weitere folgen stolpernd nach. Die Mädchen warten vor der Kirchentür, bis ein Schatten sie hereinwinkt. Das Kirchenschiffist nicht halb so groß wie das der Kathedrale in Mainz. Das ist die Grotte des Herrn, erleuchtet von Feuer, gewärmt von Menschenkörpern, die sich erheben, als wären sie zusammengenäht, raschelnder Stoff, ein großer und lärmender Atem. Die Kirche ist ein dunkles Tier, das in der Dämmerung die Borsten aufrichtet und sein glühendes Inneres durch viele kleine Augen leuchten lässt.
Es war viel Arbeit, die Kirche für den heutigen Tag herzurichten. Die Wände sind im dämmrigen Licht grau, nur in den Halbkreisen um die Fackeln herum, die an den Mauern befestigt sind, glimmen die Sandsteinblöcke golden und rot marmoriert. Die rechteckigen Säulen, die Haupt- und Seitenschiffe trennen, sind mit einem einzelnen Band aus geschnitzten Weinblättern und Trauben geschmückt. Sie haben es weder geschafft, die Wände auszuschmücken noch die flache Holzdecke, es ist ein strenger und nackter Raum. Das Altarretabel haben Sophia und Hildebert gemeinsam gespendet, es wurde beim besten Holzschnitzer der Gegend bestellt, schon bevor der Bischof seine Erlaubnis gegeben hatte. Dort sitzt Christus auf dem Schoß seiner Mutter, ein Königskind des Himmels, er sieht über die Gemeinde und hebt triumphierend seine rechte Hand. Auf jeder Seite von ihm stehen Jünger, fein geschnitzt, ihre Gesichter sehen gleichzeitig freundlich und streng aus. Der Holzschnitzer bekam Bescheid, an nichts zu sparen, und sogar in der Dunkelheit funkeln der blank polierte Anstrich und die Goldplattierung am Thron Christi.
Ein Teil des Seitenschiffs muss noch errichtet werden, und obwohl es sorgfältig gegen das Wetter geschützt ist, weht der Wind zwischen den Brettern hindurch und zerrt an den Fackeln, sodass die Flammen waagerecht brennen. Zum Frühjahr, wenn der Frost aus dem Boden ist, soll die Arbeit weitergehen. Den ganzen Winter über werden sich die Steinmetze auf das große Motiv vom Tag des Jüngsten Gerichts konzentrieren, das den Eingangsbereich zieren soll. Später sollen auch die einfachen Holztüren durch Bronzetüren ersetzt und mit der Zeit die Decke dekoriert werden. Niemand wollte die Weihe des Klosters länger hinausschieben. Zudem
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