Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
scheint Juttas und Hildegards Ankunft die finanzielle Lage so verbessert zu haben, dass die Planungen eingehalten werden können.
Hildegard und Jutta bleiben nebeneinander stehen, bis Erzbischof Ruthardt seine Hände hebt und den Segen über die Versammlung spricht. Das Kind sieht jünger aus als seine zehn Jahre, ein Engelswesen mit Strohkranz im Haar, einem weißen Kleid, das so lang ist, dass sie beinahe darüber stolpert, mit umgeschlagenen Ärmeln, damit ihre Hände frei sind. Jutta steht mit gebeugtem Kopf da, während das Kind sich umschaut. Sie legt den Nacken zurück und sieht direkt hinauf in die Dunkelheit, erforscht die Gemeinde Gesicht für Gesicht, suchend und ernst. Sie ist so darin versunken, alles mitzubekommen, dass Jutta sie leicht gegen den Arm puffen muss. Seite an Seite knien sie vor der Lage aus Tannennadeln und Zweigen, die auf dem Steinboden an der Eingangstür bereitet ist. Der Erzbischof hebt beide Hände zum Zeichen, sie mögen sich hinlegen. Mit den Gesichtern in die Zweige und die Nadeln gedrückt, liegen sie da, es duftet mild und klebrig nach Fichtenwald, es sticht durch die Kleidung und kratzt an den Wangen, das schmächtige Kreuz zweier Körper. Ihre Hände berühren sich beinahe. Ein eisiger Wind weht über den Boden, er kneift in ihre nackten Füße und Beine. Das Blut gefriert und bahnt sich hackend seinen Weg durch die Adern, wie ein wiederkehrender, ruckartiger Schmerz, ein langsamer Puls, der sich in den halb unverständlichen Worten der Priester und des Bischofs spiegelt undim Gesang der Brüder: Und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.
Der Erzbischof führt die Prozession an durch das Kirchenschiff. Knisternde Seidenumhänge, rasselnde Goldkreuze. Aus den Weihrauchfässern wallt ein guter Duft, ein berauschender, schwerer Duft, und gleich werden sie sich aus ihrer unbequemen Stellung erheben. Er segnet sie mit ausgestreckten Armen, Tausende Glühwürmchen sprühen von den Händen, sie brennen auf dem Rücken. Er spritzt Wasser auf ihre ausgestreckten Körper, kleine dunkelgraue Inseln treten auf dem weißen Stoff hervor, ein kreisförmiges Muster, eine schöne Symmetrie. Jutta liegt unbeweglich da, das Kind zittert. Ein einziges Wort ist Zeichen genug für Jutta, die sich auf alles konzentriert, was gesagt wird, und langsam kommt sie auf ihre Knie, schiebt beide Hände unter den Arm des Kindes und zieht sie hoch. Hildegards Gesicht glüht rot und weiß, die Zweige haben ein Labyrinth über Wangen und Kinn gezeichnet, der Strohkranz ist ihr über die Augenbrauen gerutscht. Es sieht so aus, als würde sie fallen. Sie schwankt von einer Seite zu anderen, sie öffnet und schließt ihre Hände, aber sie bleibt stehen. Auf jeder Seite von ihnen ist ein Priester, er reicht jeder von ihnen zwei brennende Kerzen. Ein Licht für die Liebe zu Gott, eins für die Liebe zu deinem Nächsten, brennende Spuren von Talg über Hildegards Händen.
Aber deine Toten werden leben, deine Leichname werden auferstehen. Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde! Denn ein Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird die Toten herausgeben.
Ein Seufzer aus Körpern, die sich erheben, jemand lässt etwas mit einem harten Knall auf den Boden fallen, jemand hustet, ein anderer ächzt. Hildebert und Mechthild treten vor und stellen sich neben ihr Kind. Hildebert steht so nah, dass Hildegard seinen wohlbekannten Duft einatmen kann, Mechthild steht direkt hinter ihm. Mit dem Bischof an der Spitze bewegt sich der Begräbniszug durch die Kirche. Es summt in Hildegards Füßen, sie klammert sich fest an die Kerzen, der Körper ist aus seiner Lethargie erwacht. Hildebert steht so dicht, dass sie seinen Umhang spüren kann, das weiche Fell schabt unerträglich über ihren Arm.
Veni, Creator Spiritus, mentes tuorum visita, imple superna gratia quae tu creasti pectora.
Vor dem Altar müssen sie dreimal niederknien.
Suscipe me, Domine, secundum eloquium tuum, et vivam et non confundas me in expectatione mea.
Die vier Lichter, Juttas zwei und Hildegards zwei, sollen auf dem Altar platziert werden. Der Wind lässt die Flammen beinahe ersterben, doch der Priester schützt die Lichter mit seiner Hand. Das Feuer spiegelt sich tanzend in seinem Goldring, macht Hildegard zu einem Schlafwandlerkind, das die Hand ausstreckt, um das Feuer zu berühren. Hildebert fasst sie an der Schulter, hält die vorgestreckte Hand zurück, dreht sie herum, sodass sie Jutta und dem Rest des
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