Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Gefolges zurück zu der unbequemen Lage folgen muss, die Wärme seiner Hand dringt durch die Kleidung. Während der Lesung und der Predigt liegen sie wieder ausgestreckt da, und als sie abermals Erlaubnis erhalten aufzustehen, blickt Hildegard forschend in die Gemeinde und sucht nach dem Gesicht ihres Vaters. Leute sind von überall her angereist, Männer und Frauen, unruhig trippelnde Füße, farbenprächtige Umhänge, Pelzwerk und halboffene Münder. Es ist ein Tag ohne Ende, der Augenblick vor dem Tod, in dem das Licht aus dem Paradies fern und unmöglich lockt. Hildebert ragt zwischen den anderen Männern heraus, steht breitschultrig und mit gebeugtem Kopf da und faltet die Hände. Als Hildegards Name in dem halb unverständlichen Gebet genannt wird, geht ein Zucken über sein ansonsten so ausdrucksloses Gesicht. Mechthilds Gesicht verliert sich in Schatten und Licht, weiche, unruhige Felder, die ihre Augen und ihren unbeweglichen Mund bedecken. Hildegard starrt und starrt, bevor sie sich wieder auf die Tannennadeln legen muss, ihre Augen sind trocken, aber ihre Gesichter stoßen gegen das Vermissen, das sie beinahe vergessen hat. Kleine Stöße, ein glühend heißer Klöppel gegen die Innenseite einer Eisenglocke.
Die Mädchen knien auf dem Boden vor ihrer Zelle. Die Schaufel ist so klein, dass sie in der Hand des Bischofs nahezu verschwindet. Eine feine Schicht aus staubiger Erde sammelt sich entlang des Strohkranzes um Hildegards Kopf. Danach lässt der Bischof auch über Juttas Kopf Erde herabrieseln, sie blinzelt. De terra formasti me et carne induisti me. Redemptor meus domine, resuscita me in novissimo die.
Mechthild schiebt den Arm unter den Hildeberts, aber er rückt von ihr weg. Sophia nickt Mechthild zu, die zurücknickt, während ihr die Tränen über Wangen und Mund laufen, obwohl Hildebert sie mit harten, verurteilenden Augen ansieht. Mechthild sieht ihre Tochter an, die mit dem Rücken zu ihr niederkniet. Selbst wird sie ihren Fuß nie in die Räume setzen, in dem ihre Jüngste den Rest ihrer Tage zubringen soll. Bis jetzt hat sie den Schmerz über den Verlust einigermaßen im Zaum halten können, indem sie sich in ihrer Phantasie vorstellte, Hildegard wiederzusehen. Aber auf diesem Berg haben Tagträume keinen Platz. Sie wird allerhöchstens einmal im Jahr mit ihrer Tochter sprechen können, durch ein kleines vergittertes Fenster. In diesem nackten Kirchenschiff wird sie auf einem Holzstuhl sitzen und die Stimme ihres Kindes hören, hier wird sie die Finger durch das Gitter stecken, um ihre Hände zu streicheln, hier wird sie sehen, wie die Jahre ihr Kindergesicht auslöschen und durch das unbekannte Antlitz einer erwachsenen Frau ersetzen. Es war ihre Idee, Hildegard ins Kloster zu schicken, aber obwohl sie keinen anderen Ausweg sieht, hat sich der Zweifel in ihr festgesetzt, seit Hildegard nach Sponheim gebracht wurde. Viele Male war sie kurz davor gewesen, ganz alleine den ganzen Weg bis zu Sophias Gut zu reiten und ihre Tochter zurückzunehmen. Es war unmöglich, mit Hildebert darüber zu sprechen. Er sagt fast gar nichts mehr, sondern führt sich auf, als hätten sie eine Rechnung offen.
Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.
Die Männerstimmen des Chores tönen beruhigend durch die Kirche, die Mädchen rücken auf ihren Knien vorwärts, während die Gemeinde hinter ihnen stehen bleibt. Jemand spricht murmelnd den Psalm mit, die meisten sehen stumm den Mädchen nach. Der Erzbischof, die Priester und die Brüder folgen ihnen in die kleine Zelle mit Weihrauchfässern, Weihwasser, Mörteleimer und Kelle. Jutta verschwindet als Erste, dicht gefolgt von Hildegard. Juttas leuchtendes, weißes Gewand kann der Dunkelheit nicht widerstehen, nur die Stimme des Bischofs dringt noch hindurch, stark und kraftvoll.
Und du wirst im Alter zu Grabe kommen, wie Garben eingebracht werden zur rechten Zeit.
Die Priester antworten mit einem Murmeln, das so schwach ist, dass die vordersten Zuhörer einen Schritt nach vorne treten.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nichtin die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Wer sein Leben lieb hat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt haßt, der wird's erhalten zum ewigen Leben.
Hildegard verschwindet, die Dunkelheit verschluckt ihr Weizenkorn, und Mechthild ringt die Hände so heftig, dass
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