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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Wochen. Sophia hörte auf zu protestieren, als sie merkte, dass es die genau gegenteilige Wirkung auf Jutta hatte. Jutta schrieb selbst ein Gesuch an den Bischof, und bevor sie eine Antwort erhielt, war Hildebert aus Bermersheim gekommen und hatte hinter verschlossenen Türen mit Sophia gesprochen. Danach erklärte sie Jutta, dass Hildegard mit ins Kloster solle, und Jutta empfand es als Belohnung des Herrn für ihre Unbeugsamkeit.
 
    Hildegard ist fertig mit der Grütze und sieht Jutta fragend an, die nichts bemerkt. Sie weiß, sie darf nichts sagen, kann es aber nicht aushalten, noch einen Augenblick länger auf der Bank zu sitzen. Sie klopft vorsichtig mit dem Steinpferd auf die Tischplatte. Aber Jutta steht nur da und schaut vor sich hin mit einem Blick, den Hildegard so gut kennt, der durch Dinge und Menschen hindurchsieht, als wären sie Geister und Blendwerk. Hildegard klopft wieder, diesmal etwas fester, und dann noch einmal mit allen Kräften. Ein Ruck geht durch Jutta. Sie nickt, als habe sie überhaupt nicht bemerkt, dass Hildegard den Stein auf den Tisch geknallt hat. Jutta gibt ihr ein Zeichen, sie könne aufstehen. Sie ist froh, dass das Kind versteht, dass sie an diesem besonderen Tag nicht miteinander reden dürfen, sondern sich dem Gespräch mit Gott widmen. Umso mehr quälen sie ihre eigenen Gedanken, die so flatterhaft sind, dass ihr nicht einmal Gebete Ruhe verschaffen.
 
    Jutta hat in den vergangenen Jahren genug über ihre eigene Natur gelernt, um zu wissen, dass ihr Gemüt nichts anderes ist als Staub, der unaufhörlich bei der kleinsten Berührung hierhin und dorthin gewirbelt wird. Deshalb war sie auch vor wenigerals einem Monat in Tränen ausgebrochen. Gedanken an Wilhelm vereinigten sich mit dem Kummer darüber, Abschied nehmen zu müssen. An diesem Tag entschloss sie sich endgültig, ihrem irdischen Verlangen ein für allemal zu Leibe zu rücken. Sie legte sich auf dem kalten Boden der Kapelle auf den Bauch. Sie faltete die Hände unter dem Körper, sodass die Knöchel gegen den Brustkasten drückten. Kummer und Zweifel wollten nicht loslassen, aber sie blieb liegen, wohl wissend, dass Beharrlichkeit ihre einzige Stärke war. Als Meinhardt schon spät am Vormittag kam, um zu beten, und sie zwang aufzustehen, konnte sie ihre Füße und Beine nicht mehr spüren. Aber das trotzige Verlangen war besiegt. Meinhardt schüttelte sie und herrschte sie mit harten Worten an. Doch sie nahm nur sein Gesicht in ihre Hände und legte ihre kalten Finger auf seine bärtigen Wangen. In seinen Augen begegnete ihr echte Verzweiflung, und sie hätte einen ihrer Arme dafür gegeben, er möge verstehen, wie sehr sie Gott liebte und fürchtete. Er sah sie an, höhnisch und stolz, wandte ihr den Rücken zu und suchte die Stille am Altar, die sie nicht stören durfte. Später am selben Tag bat sie den Kutscher, sie und Hildegard zur Kirche nach Sponheim zu fahren, um zu beichten. Während Jutta ihre Sünden bekannte, saß Hildegard im Kirchenschiff und blickte Christus direkt in die Augen. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, wurde sie von großem Mitgefühl ergriffen. Er sah siegreich vor sich hin, sein knöchellanges Gewand war aus Gold, aber die Hände waren ans Kreuz genagelt. Denk an Christi Wunden, hatte Jutta zu ihr gesagt, denk an die Dornenkrone und den Judaskuss, denk an die Wunde in seiner Seite, die er unter seiner Kleidung verbirgt, denk an Gott, der seinen einzigen Sohn opfern musste, um den Tod zu überwinden. Dann wirst du verstehen, dass das, was du verlierst, nur ein geringes Opfer ist, um Gott zu ehren.
 
    Nach dem Frühstück steht Hildegard unruhig da und lässt sich von Jutta mit dem Überwurf helfen. Sie friert trotz des pelzgefütterten Umhangs und der drei Paar Wollsocken. Der Kutscher kommt mit einigen Stücken Pelz und stopft sie um das Kind herum. Jutta zeigt stumm auf das Steinpferd in Hildegards Hand, und Hildegard lächelt und hält es ihr zeigend hin. Erst als Jutta ihr ein Zeichen gibt, sie solle es ihr geben, verschwindet das Lächeln. Hildegard weigert sich, schüttelt den Kopf und schließt die Hand so fest um den Stein, dass die Knöchel weiß werden. Jutta will keine Macht anwenden und das Kind nicht aufregen, also lässt sie sie in Ruhe. Wenn das Kind nicht versteht, dass sie sich vom Letzten trennen muss, das sie in der Welt außerhalb des Klosters festhält, muss sie eine andere Art finden, Hildegard dazu zu bringen, es freiwillig abzugeben.
    Sophia kommt mit raschen Schritten

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