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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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herbei, sie steigt auf den Wagen und küsst Hildegard auf die Stirn. Sie küsst auch ihre Tochter, aber Jutta sieht nicht so aus, als würde sie es bemerken. Meinhardt küsst nicht, streckt aber die Hand über die Kante des Wagens und tätschelt Hildegard die Wange. Er war mürrisch und boshaft, jedes Mal wenn das Gespräch auf die Abreise kam, obwohl er sich den größten Teil des Herbstes in der Nähe vom Disibodenberg aufgehalten hatte, um die Bauarbeiten am Verlies seiner Schwester zu beaufsichtigen. Er schickte alle Bewerber gemäß Juttas Wunsch wieder fort und musste obendrein seinem Jugendfreund Wilhelm mit dem Schwert drohen, weil er wieder und wieder angeritten kam, mit Unterstellungen und Hoffnungen, obwohl es auf der Hand lag, dass das Versprechen einer jungen Frau nicht mehr verpflichtend war als eine Fieberfantasie. Dennoch ist da ein Dorn in seinem Herzen. Sophia bemühte sich, geduldig zu sein, undsagte nie etwas zu seinen harten Worten, und was Jutta angeht, kann niemand von ihrem Gesicht ablesen, was sie denkt.
    Sophia und Meinhardt sollen bei der Zeremonie zugegen sein, aber sie fahren in einem anderen Wagen, so wie Jutta es wünscht, damit sie und das Kind ihr Schweigen beibehalten und die bevorstehende Trennung erkennbar machen können. Meinhardt geht einmal ganz um den Wagen herum. Er tritt gegen die Räder und streicht mit der Hand am Wagenkasten entlang. Danach macht er die Runde ein weiteres Mal und noch einmal, bevor er endlich bei Jutta stehen bleibt. Er steht mit hängendem Kopf da und schabt mit der Schuhspitze über den Raureif, ein Schlangenmuster, das sich halb um seinen Fuß herumwickelt. Er nickt, immer noch ohne den Kopf zu heben, und schiebt die Unterlippe vor. Dann streckt er die Hand hinauf zu seiner Schwester, die geradeaus vor sich hinblickt und doch seine Hand nimmt. Sie nickt, er nickt, sie nickt wieder. Und der Wagen setzt sich rumpelnd in Bewegung, wie ein dunkles und schwangeres Tier, das unter seiner lebenden Last beinahe kentert.
 

 

3
      
Der Wagen fährt über ein Loch, sodass Hildegard beinahe hintenüber kippt und vor Schreck lachen muss. Jutta legt einen Finger an ihre Lippen, und das Kind nickt. Der Graben ist schon hart gefroren, so früh ist der Winter mit seiner ganzen Strenge gekommen. Der Rosenkranz zwischen Juttas Händen hat die gleiche Farbe wie der hart gefrorene Graben, eine Nuance zwischen Grün und Schwarz, wie Schlamm im Herbst, wie ein Gewitterhimmel.
 
    Es mahlt und surrt wie Räder durch Hildegards Gedanken. Herbst, Schlamm, Gewitterhimmel, Graben, Rosenkranz. Rund und wieder rund, rund Schlamm, rund Himmel, rund Graben. Herbst, Sommer, Winter, Sommer, Herbst. Aber wo ist das Frühjahr geblieben? Wo ist die helle Zeit? Wo sind die Lerchen, die Duftveilchen, der Blütenschnee der Obstbäume?
 
    Es surrt wie ein Rad. Der Rosenkranz hat die gleiche Farbe wie Schmelzwasser, das im Frühjahr kalte und zerbrechliche Perlen durch den Bach in Bermersheim fließen lässt. Er hat die Farbe des dreckigen Strohs der Tiere, wie die Unterseite eines Pferdehufs, wie von Schlägen zurückgelassene Flecken.
 
    Es surrt wie ein Rad. Der Rosenkranz ist das Frühjahr, so muss es sein, und das hat sich Gott schön ausgedacht, Jutta von allen Kränzen der Welt gerade diesen Kranz zu geben. Hildegard war dabei, als sie ihn kaufte, er fiel so natürlich in ihre Hand, lag weich und richtig über der Herzlinie der Hand, sodass ein jeder sehen konnte, er müsse ihr gehören.
 
    Hildegard schließt die Augen, sie hält das surrende Rad fest. Sie schließt die Augen, ihr Fleisch ändert die Form, zerfällt in winzig kleine Körner, die in alle Richtungen geschleudert werden, Schauer über schwarzer Erde. Wurzeln werden nach unten gestreckt, das Gesicht wendet sich einem farblosen Himmel zu. Es ist das Fleisch in der Grütze, es sind Körner und Rosenkranz, es ist der Wagen und der Berg, den sie nie gesehen hat, das Kloster, das Jutta aus purem Gold erbaut hat. Es sind ihre Füße in den Lederschuhen, die Lederschuhe auf der Felldecke, die Decke auf dem Boden des Wagens, die Erde des Wegs, der stumm vorbeitanzt, eine Kruste, die von schweren Rädern zerborsten wird und sich öffnet, aber nie so weit, dass jemand sehen kann, was die Erde in sich versteckt. Alles kann mehrere Formen annehmen: Der Atem ist sowohl Wassertropfen auf der Felldecke als auch die weiße Wolke, die im Frostwetter aus dem Mund aufsteigt. Der Wind ist ein Abdruck im Korn, im Laub, im Wasser, wird

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