Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
zu Tränen in den Augen, obwohl man weder glücklich noch traurig ist. Kälte färbt die Gesichter rot, Wärme zieht feucht durch die Haut. Alles wechselt die Form, aber nur ›Das Lebende Licht‹ hat so viele Formen, dass es keinem Menschen möglich ist, sie alle zu kennen. Hildegard legt den Kopf zurück. Der Duft von Schnee, knirschende Pferdehufe, das einschläfernde Rumpeln des Wagens. Sie schließt die Augen einen Moment, reißt sie weit auf, um nicht einzuschlafen. Funken schlagen um die Hufe der Pferde, Juttas weißer Atem tanzt mit ihrem eigenen. Der Weg teilt sich vor ihnen in drei Wege: Gott, Christus, der Heilige Geist. Die Wege sind aus Wolken gemacht, der Wagen fährt über alle drei, und Hildegard weiß, dass es die Unendlichkeit ist, die sie vor sich sieht.
4
Mit ein paar hundert Metern Abstand überqueren die beiden Wagen den Fluss Nahe und fahren durch Bad Sobersheim, das wenig mehr ist als der Geruch nach Kaminrauch und eine Ansammlung grauer Holzhäuser, die sich gegeneinander lehnen. Direkt hinter dem Dorf schlägt der Weg einen Bogen und folgt dem Fluss, dessen Wasser unter einer dünnen Kruste Eis eingeschlossen ist. Hinter den Fichten öffnet sich der Himmel einen Spalt breit, die Landschaft ist erstarrt, nur zwei einsame Wagen sind in Bewegung.
Das Geräusch eines Wagens, Stimmen, die sich nähern, Männer und Frauen. Jemand geht draußen auf dem Gang vorbei, und das Geräusch verhallt. Hildegard meint, sie könne Mechthilds Stimme hören und kurz darauf Hildeberts, aber sie verklingen, bevor sie sicher ist. Trotzdem springt sie erwartungsvoll auf, als die Tür geöffnet wird, sinkt aber wieder auf der Bank zusammen, als sie sieht, dass es nur eine Frau ist, die Arme voller Stoff. Jutta steht auf, hilft der Alten, ihre Last abzulegen, ergreift ihre Hände und drückt sie herzlich. Auch Hildegard steht auf, verbeugt sich vor der Fremden, die sie am Kinn fasst. Ihre Augen haben die gleiche Farbe wie ein hoher, heller Himmel, sie sieht lange auf sie herab. Vielleicht spöttisch, vielleicht freundlich, das ist schwer auszumachen.
»Ich bin Uda von Golheim«, sagt die Alte, ohne den Blick abzuwenden, »du brauchst nicht so erschreckt dreinzuschauen.« Sie schiebt den Haufen Stoff in die Mitte des Esstischs.
Hildegards Gesicht ist rot vom Weinen. Gestern fragte sie Jutta, ob sie ihre Eltern sehen werde, und Jutta antwortete, das werde sie wohl, obschon sie nicht erwarten solle, mit ihnen reden zu können. Hildegard hatte sich bei dem Gedanken so gefreut, aber jetzt ist die Freude verschwunden, Jutta ist gut zu ihr, Jutta ist böse. Das Steinpferd muss alleine im Morast liegen, es ertrinkt unter Füßen und Hufen.
»Ich weiß, ihr sprecht heute nicht, und so will auch ich schweigen«, sagt Uda und lässt sie endlich los. Sie breitet die Stoffe auf dem Tisch aus. Zwei kreideweiße Kleider, zwei Kränze aus Stroh, ein Kamm aus Knochen. Uda streicht mit beiden Händen über den Stoff, glättet unsichtbare Falten.
Uda brauchte nicht einen Augenblick Bedenkzeit, als Meinhardt unerwartet das Pferd vor ihrem Haus anhielt und mit seinem Gefolge in ihrer kleinen Stube stand, um sie zu bitten, auf Disibodenberg Mädchen für Jutta und das Kind zu sein. Es ist eine Ehre für eine Witwe wie sie, eine Ehre, die sie dem Herrn und einem sorgenfreien Tod einen Schritt näher bringt. Sie soll Hildegard begleiten, wenn sie herumgeht, ein Kind kann nicht die ganze Zeit eingeschlossen sein. Uda soll ihnen Essen bringen und für sie sorgen, wie eine Mutter für ihre Kinder sorgt. Ihre eigene Tochter wurde beklommen und hatte sich für ihre Mutter gefreut, obwohl ihr bei der Aussicht, sie nur ein paar Mal im Jahr zu sehen, Tränen in die Augen traten. Aber Uda hatte gestichelt – siebzehn Jahre alt und schon verheiratet, da würde sie doch wohl zurechtkommen können, ohne am Rockzipfel ihrer Mutter zu hängen.
Hildegard streckt gehorsam die Arme aus und lässt sich von Uda das Kleid über den Kopf ziehen. Sie könnte es selbst tun, aber es ist etwas Beruhigendes an den raschen Bewegungen der Alten. Sie löst auch Hildegards Haar und streicht geistesabwesend darüber, während sie darauf wartet, dass Jutta mit dem Kämmen fertig wird. Hildegard hat Jutta nie mit offenem Haar gesehen und kann nicht anders, als sie anzustarren. Das Haar reicht ihr bis zum Leib, es ist dunkel und gewellt, aber nicht glänzend und dick wie Mechthilds. An einigen Stellen des Schädels sieht es aus, als wachse dort
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