Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Gedanken:
Welcher Körper versorgt den Fluss mit Wasser? Wo bleibt das Blut, wenn es sich doch nicht in den Fingerspitzen aufstaut? Wenn das Blut strömt wie der Fluss, wie kann es dann gegen den Strom fließen?
Jutta sagte, ihre Stimme gehöre Gott. Nur Gott kann die wirren Gedanken eines Kindes hören, nur Gott kann auf Fragen antworten, die niemals laut gestellt werden. Jutta wahrt das Schweigen und wird in ihrer Zelle unsichtbar. Hildegard denkt, dass Jutta Gott mit in ihre leere Dunkelheit gelockt hat. Sie grübelt, ob sie Gott wütend gemacht hat und er sie deshalb straft und sie ›Das Lebende Licht‹ nicht sehen lassen will. Jutta sagte, man solle mit leeren Händen ins Kloster gehen. Vielleicht ist Gott wütend, weil sie sich weigerte und sich an das Steinpferd klammerte? Weil sie weinte und Jutta in Gedanken sowohl geschlagen als auch getreten hat, als sie es ihr wegnahm? Manchmal ist der Fluss ein Trost. Manchmal ist er voller Bosheit und Dämonen. Dann geht er zusammen mit dem Wind durch die Dunkelheit, klingt wie ein Heer Leprakranker mit Schnarren und Glocken. Aber Hildegard wagt nicht, Uda zu rufen. Sie kann Jutta nicht hören, ihre Atemzüge sind lautlos wie Insektenflügel, sie könnte genauso gut tot sein.
Himmlischer Vater, flüstert Hildegard und wartet auf Antwort. Die gefalteten Hände sind ein Halbdach, unter dem sie sich zusammenkrümmt, sie ist sowohl taub als auch blind. Erst nach der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche kommt ›Das Lebende Licht‹ zurück. Und dieses Mal mit einer solchen Kraft, dasssie umgeworfen wird. Uda von Golheim findet sie, zusammengekrümmt wie ein Säugling liegt sie auf dem Boden, halb unter ihrem Bett. Uda ruft um Hilfe, Uda flüstert zum Herrn, er möge in Gnade auf das arme, schwächliche Kind sehen. Hildegard kann sich kaum auf den Beinen halten, sie schwitzt und friert abwechselnd, aber sie ist glücklicher, als sie es lange gewesen ist: Da ist nichts, das weh tut. Der ramponierte Körper bedeutet nichts, das Fieber ist nur Fieber. Gott hat sie nicht vergessen. Er sprach. Und sie hörte jedes einzelne Wort.
8
Es gibt Dinge, die man mit eigenen Augen sehen muss, um sie zu verstehen. Hildegard heftet sich zwei Nachmittage in der Woche an Udas Fersen, und Uda zeigt ihr alles, worum Jutta sie gebeten hat. Das Infirmarium, die Tiere und der Kräutergarten wecken das größte Interesse bei ihr. Zum Skriptorium hat sie keinen Zutritt, und im Küchenhaus zu sein hat sie überhaupt keine Lust.
Hildegard hat etwas Freimütiges an sich, eine Art, direkt vor den Mönchen zu stehen und sie anzustarren, wenn sie arbeiten. Uda denkt, es könne leicht mit Einfältigkeit verwechselt werden, aber wenn sie Fragen stellt, sind sie kompliziert und gründlich, und sie merkt sich alles, was sie erzählt bekommt.
Hildegard darf nicht untätig sein, denn dann gewährt sie dem Teufel Zugang zu ihrem reinen Herzen. Man muss beten oder arbeiten, das kommt auf eins heraus, denn das Gebet ist auch eine Arbeit, und im Kloster beten sie für alle. Einsam mit Gott zu sein ist, sich selbst als Abendmahlbrot zu brechen, erklärt Jutta. Hildegard sieht es vor sich. Jutta zerbrochen wie ein Brot.
Uda hatte gerade die Tür aufgeschlossen und wollte Hildegard mit nach unten nehmen, um nach den trächtigen Schafen zu sehen, als sie sie auf dem Boden fand. Das mitgenommene Gesicht des Kindes hatte sie erschrocken, und sie rief so laut, dass Jutta die Läden zur Seite schlug.
Obwohl sie sich bemühen zu flüstern, wacht Hildegard auf. Sie hat beinahe drei Tage und Nächte lang ununterbrochen geschlafen. Wenn Uda meint, sie sollten sie zwingen zu essen, ist Jutta überzeugt, dass es reicht, wenn sie sie nur dazu bringen können, Suppe und dünnes Bier zu trinken. Uda muss sich fügen, Jutta hat den Herrn auf ihrer Seite. Sie betet und singt Psalmen für die Kleine, die aber die meiste Zeit über döst und es nicht zu bemerken scheint.
Uda weiß nicht, ob sie sich mehr um das schwächliche Kind oder um Jutta Sorgen machen soll, die zuerst so streng war, nachher so verzweifelt, als läge Hildegard im Sterben. Aber der Tod hat hier nichts zu tun, das erkennt Uda instinktiv, und sie kann nicht begreifen, dass Jutta ihr Vertrauen den einen Augenblick den Schauen einer verrückten Frau schenkt, während sie im nächsten allen Mut verliert.
Jetzt, da Hildegard wach ist, bittet Jutta Uda darum, die Tür zur Kammer weit zu öffnen, sodass Hildegard hören kann, was sie sagt.
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