Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Blütenstand hinterlassen, den niemand ansehen will, sondern nur wegschnippen wird.
Das andere Juwel kann sich Hildegard leicht vorstellen, aber dennoch nicht sehen. Es leuchtet auf die gleiche Weise wie die Stimme in dem Licht, wenn es zu ihr spricht. Es leuchtet in der gleichen Farbe wie die Luft, und doch leuchtet es stärker als irgendetwas anderes. In dieses Licht zu sehen ist schwerer, als in die Sonne zu starren.
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Hildegard ist wieder auf den Beinen, sie folgt dem festgelegten Schema der Tage. Uda bleibt vor dem Küchenhaus stehen. Sie spricht mit dem Jungen und gibt Bestellungen auf. Drinnen sind sie damit beschäftigt, Teig zu kneten. Ein Novize, den Hildegard bislang noch nicht gesehen hat, hebt den Blick und sieht sie an. Er blinzelt und lächelt. Uda folgt Hildegards Blick, ein Habicht auf Ausschau nach Beute, auf die er sich stürzen kann, aber der Novize hat sich wieder seiner Arbeit zugewandt, er schwitzt, dass die Stirn glänzt. Hildegard hört nur halb hin,was Uda zu dem Jungen sagt. Es hat etwas mit der Fastenkost und mit einer Fischart zu tun, versteht sie, aber das interessiert sie nicht. Das Geräusch von Teig, der auf die Tischplatte geklatscht wird, der Staub wie eine dichte Gardine über der Türöffnung.
Uda geht weiter, Hildegard trottet ihr hinterher. Ab und zu hält Uda an, um etwas zu dem einen oder anderen zu sagen, Stakkatosätze und Bestellungen. Wie sie so viel zu sagen haben kann, versteht Hildegard nicht, wenn die Mönche in Stille arbeiten müssen.
Nachdem Abt Kuno Jutta ermahnte, das Fasten nicht zu übertreiben, akzeptierte sie es, den Essgewohnheiten der Brüder zu folgen. Eine Mahlzeit im Winter, zwei im Sommer.
Niemandem am Disibodenberg konnte es einfallen, Fleisch von unreinen Tieren zu essen, aber Jutta weigert sich, überhaupt Fleisch zu essen. Dazu kann niemand etwas sagen. Rehfleisch ist für die Schwachen und für die Kranken und für die, die hart arbeiten, in den Weinbergen oder anderswo. Im Winter ist es für Menschen nicht gut, Wasser zu trinken, da muss Jutta also Bier trinken wie alle anderen, aber sobald der Frost aus der Erde ist, will sie Wasser trinken, obwohl Bier gut nährt und Farbe im Gesicht gibt. Sie hat Uda verboten, ihr eine eigene Portion des Essens zu bringen, und besteht darauf, nur Hildegards und Udas Reste zu essen. Wenn das Kind gesund ist, hat sie guten Appetit, und wenn Jutta erst Fleisch und Fisch aussortiert hat, ist nicht viel übrig. Uda sorgt für besonders große Portionen, aber Jutta isst nicht mehr als das, was nötig ist, um sich am Leben zu halten. Uda weiß, dass sie oft mit ihrem Beichtvater über Züchtigung spricht. Ein einziges Mal ging er aufgebracht weg, denn Jutta ist eigensinnig und stur: Jetzt will sienur trockene Kost essen. Sie weiß, dass andere Inklusen es so gemacht haben, und warum sollte sie es besser haben?
Uda und Hildegard müssen heute zur Webstube, um Stickgarn zu holen. Über Monate ist ein Altartuch für die Klosterkirche zwischen Juttas Händen gewachsen. Das feine, kreideweiße Flachsleinen ist in der Zelle auf einen Holzrahmen gespannt. Der Faden ist genauso weiß, und nur, wenn man nahe herantritt, kann man Muster und Bilder sehen. Am besten gefällt Hildegard das Kreuz, umrankt von Weinblättern und Blumen. Ab und zu fädelt sie den Faden für Jutta ein, und jedes Mal muss sie ihre Hände waschen und sie danach von Jutta inspizieren lassen. Jutta selbst hat eine Waschschüssel neben sich auf dem Boden stehen, wenn sie näht. Ihre Hände sind kühl und trocken, aber dennoch wäscht sie die Hände ständig, um zu vermeiden, dass das Altartuch beschmutzt wird. Als Hildegard einmal fragte, ob das Tuch nicht gewaschen werden könne, wenn es fertig sei, nickte sie auf ihre geistesabwesende Art, hob nicht einmal den Blick, sondern sagte, das Kreuz erstrahle am stärksten in reinstem Weiß.
Vor der Tür zur Weberei bleibt Hildegard stehen. Uda ist in den großen Raum gegangen, wo die Mönche an den Webrahmen arbeiten: Wolle für das Bettzeug und die Ordenstrachten, das grobe, ungebleichte Leinen für gewöhnliche Tücher und Handtücher, das feine, weiße für Altartücher und Stickereien. Ein junger Mönch, der aus Italien ins Kloster gekommen ist, sitzt in stummer Konzentration über ein besonderes Gewebe gebeugt da. Es ist kleiner als die anderen, und die Enden aus gefärbter Wolle stehen nach allen Seiten ab. Er webt Bilderteppiche mit schönen Motiven. Hildegard ist neugierig
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