Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
nagt. Ginge es nach ihr, könnte Jutta das Kind ruhig härter bestrafen, ohne dass es dem Mädchen schaden würde. Dennoch wird sie aus dem Bild mit dem Weinstock nicht klug. Wer weiß, wie sehr ein Stock beschnitten werden muss?
Als Jutta am nächsten Tag die Läden öffnet, sitzt das Kind schon auf der anderen Seite des Fensters bereit. Jutta schreibt auf die Wachstafel, und Hildegard lernt schnell. Sie fangen mit dem ersten Psalm an, Jutta singt, Hildegard antwortet. Mittendrin hält das Kind plötzlich inne.
»Bist du müde?«, fragt Jutta, aber Hildegard schüttelt den Kopf.
»Was ist es dann?«
»Warum kam sie?«
»Wer?«
»Die Alte gestern in der Kirche?«
»Hast du mich beobachtet?«
»Ja.«
Jutta schweigt, Uda lässt die Hände ruhen. Das Kind gibt ohne Reue zu, dass sie Jutta belauscht hat, als ahne sie nicht, dass es falsch ist.
»Es ist falsch, mich zu belauschen«, sagt Jutta und sieht das Kind streng an.
»Ja.«
»Das weißt du doch?«
»Ja.«
»Warum hast du es dann getan?«
»Ich glaubte, es sei etwas Wichtiges.«
Uda ist bemüht, sich hörbar zu schaffen zu machen, damit niemand glaubt, sie lausche. Sie schüttelt den Kopf. Wüsste sie es nicht besser, würde sie annehmen, das Kind habe keinerlei Erziehung erhalten. Ob es Trotz oder Dummheit ist, die dasKind dazu bringen, so freimütig nach etwas zu fragen, das sie nichts angeht, weiß sie nicht. Sie wartet auf Juttas Urteil.
Lange ist es still. Hildegard wendet den Blick nicht von Jutta ab, Jutta sieht auf ihre Hände.
»Sie hat eine Schau gehabt«, flüstert Jutta, und Uda hält ihren diensteifrigen Besen an.
Hildegard seufzt, als sei sie erleichtert.
»Als sie uns vor der Kirche sah, hatte sie eine Schau – sie sah uns am Disibodenberg, und wir lebten gut zusammen.«
Uda schnaubt. Wenn das eine Schau sein soll, hat auch sie die Gabe. Jutta sieht sie scharf an.
»Sie sah auch meinen Tod.« Bei diesen Worten krümmt sich Uda zusammen. »Sie ist eine arme Witwe, die Trutwib heißt, und hat dem Vernehmen nach nie zuvor die Gabe der Seherin empfangen. Aber um zu beweisen, dass die Schau die Wahrheit sprach, wurde sie auch gewarnt, ihr eigener Tod stehe nahe bevor, und heute Morgen habe ich Bescheid erhalten, dass sie im Infirmarium zu Tode liegt.«
Hildegard steht auf. Sie schlingt die Arme um Uda, die sich verblüfft aus ihrem Griff windet.
Jutta deutet auf den leeren Stuhl vor ihrem Fenster, und das Kind setzt sich gehorsam wieder hin.
»Vierundzwanzig gute Jahre wurden ihr gezeigt, und erst im fünfundzwanzigsten soll ich das große Glück erleben, meinem Bräutigam Jesus Christus zu begegnen.«
Hildegard nickt. Vierundzwanzig Jahre sind eine Unendlichkeit. Der Tod ist ein Segen für den, der stirbt.
7
Der erste Winter am Disibodenberg hinterlässt vage und diffuse Erinnerungen. Später erinnert sich Hildegard an die ersten dunklen Monate nur in kurzen, sinnlosen Fetzen. Ein goldener Kranz um das Talglicht, der Schnee, der alle Laute dämpft, das Geräusch der Meißel der Steinmetze, der Gesang der Mönche, die Wintersonne, die sie blinzeln lässt, wenn sie aus ihrer Zelle kommt, um Uda Gott weiß wohin zu folgen.
Da, wo vorher Bewegung war, ist es ruhig. Da, wo gesprochen wurde, ist es still. Wo Körper waren, ist es leer. Die Abwesenden haben die Luft mit sich genommen. Hildegard lebt in ihren Abdrücken und wartet verstört, sie mögen kommen und sie füllen. Das Vermissen der ersten Zeit in Sponheim kehrt zurück, und sie wartet darauf, Hildebert oder Drutwin unter den Kirchgängern der Weihnachtsmesse zu sehen, wartet, dass Mechthild oder Agnes an ihrem Bett wachen werden.
Nachts wacht Hildegard auf und wartet. Sie tastet in der Stille, um einen Beweis zu finden, dass die Welt nicht verschwunden ist. Sie findet das Geräusch zweier Flüsse und hält es fest. Nahe und Rhein. Selbst in den Wochen, in denen der Frost am strengsten ist, plätschert das Wasser an der Stelle, an der der Fluss über die Felsen stürzt und die Eiskruste durchbricht, mit einer beharrlichen Sturheit weiter. Sie weiß nicht, woher der Fluss kommt oder wo er endet, aber sie hält sein schäumendes Wasser fest. Der Fluss ist ein Atemzug, verästelt sich in ihren Adern, die durch die Haut an der Unterseite der Arme zu sehen sind. Der Fluss schlängelt sich kalt durch ihre Gedanken, reißt ihre Vernunft mit sich, reißt das Schweigen, die Träume,die Schauen mit sich, wirbelt Sand und Schlamm auf, wirbelt Fragen in ihre
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