Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Sie will alleine mit dem Kind sprechen. Erleichtert eilt Uda zum Infirmarium, um zu erfragen, was das Kind am besten essen soll, jetzt, da sie sich schnellstens erholen soll.
Hildegard will sich aufsetzen, aber die Kräfte genügen nicht. Jutta will, dass sie zusammen beten, und Hildegard faltet dieHände über der Decke. Als Jutta Amen gesagt hat, ist es, als ginge das Schweigen, das Hildegard seit ihrer Ankunft am Disibodenberg ertragen musste, mitten entzwei. Die Worte strömen hervor. Hildegard spricht von der Stimme und ›Dem Lebenden Licht‹, zuerst verworren, dann gefasster. Die Bande, die ihr die Kehle zugeschnürt und es unmöglich gemacht haben, zu erzählen, was sie hört und sieht, sind wie durch ein Wunder gelöst. Jutta hört schweigend zu, ohne Agnes' Angst oder Mechthilds Wut. Hildegard schweigt genauso plötzlich, wie sie begonnen hat. Zuerst ist Jutta still, dann nickt sie.
»Es ist Gott, der zu dir spricht«, sagt sie, »es gibt viele, die das nicht verstehen wollten.« Sie legt die Stirn an die Gitterstäbe. Hildegard liegt mit halb geschlossenen Augen da, sie wird beinahe eins mit den blassbraunen Decken. »Du musst es mir sagen, aber niemals anderen. Sagst du es, wirst du verhöhnt werden, und niemand will noch etwas mit dir zu tun haben. Es ist wichtig, dass du dir meine Worte merkst, Hildegard: Wenn du deine Stimme nicht zügelst, kannst du ausgestoßen werden und wirst ohne Obdach sein.«
Hildegards Kopf hängt wie ein Spätsommerapfel an einem dünnen Zweig. Sie umfasst mit beiden Händen ihren Kopf, sie will kein solcher Baum sein, der seine Früchte verliert. Jutta glaubt, das Kind halte sich die Ohren zu und wolle nicht zuhören. Ich muss behutsam sein, denkt sie, es ist eine schwierige Gabe, Gottes Stimme hören zu können, seine leibhaftigen Schauen zu empfangen und mit ihnen umgehen zu müssen. Also sagt sie nichts, während das Kind die Hände gegen die Schläfen presst und presst.
»Ich bin glücklich, wenn das Licht lebendig ist«, sagt Hildegard und lässt die Hände sinken. »Es kann mir überhaupt nichts geschehen.«
»Dir nichts geschehen? Wenn du daran denkst, dass Schweigen die beste Art der Frau ist, dem Herrn zu dienen, und versprichst, niemals anderen als mir etwas über das zu sagen, was du siehst, so kann dir nichts geschehen. Sonst …« Jutta zögert. Sie weiß nicht, wie sie dem Kind verständlich machen soll, wie ernst es ist. Solange sie ein Kind ist, werden viele wohl denken, es sei kindlicher Unsinn, während andere glauben werden, es seien Jutta und die Abgeschiedenheit, die ihr Flausen in den Kopf setzen. Später aber, wenn sie kein Kind mehr ist, werden die Konsequenzen unüberschaubar sein. Kommen Hildegards Worte den Falschen zu Ohren, kann das Tod und Verdammnis für sie beide bedeuten. »Sonst«, fährt sie fort, »wird Gott dich von sich weisen und nie wieder zu dir sprechen.«
»Aber es kann leicht allen anderen etwas geschehen«, flüstert Hildegard, als habe sie gar nicht gehört, was Jutta sagte. »Ich träumte auch von Benedikta.«
»Du hörtest Gottes Stimme«, sagt Jutta. Wenn sich das Kind von der Aussicht, von Gott verstoßen zu werden, nicht erschrecken lässt, dann muss sie es ihr auf eine andere Weise begreiflich machen. »Es ist ein großes Geschenk«, fährt sie fort, »du hast zwei Juwelen bekommen, über die du in deiner Schatzkammer wachen sollst. Zwei Juwelen«, wiederholt Jutta, »die mit der Sonne im Wettstreit strahlen.« Sie steckt die Finger durch die Gitterstäbe und zeichnet Kreise in die Luft. »Das eine ist deine Jungfräulichkeit. Du sollst niemals einen Mann kennen, sondern stattdessen den ewigen Bund mit dem Herrn eingehen.« Hildegard nickt. Darüber haben sie Tausende Male gesprochen.
»Das zweite«, spricht Jutta weiter, »ist, dass Gott auf dich gedeutet hat und dich seine Stimme hören lässt. Beide Juwelensollst du verbergen und niemals jemanden sehen lassen«, sagt Jutta und betont jede Silbe.
Hildegard nickt. Das eine Juwel ist zartrosa wie eine Blüte in der Knospe, es ist die Jungfräulichkeit. Jutta hat gesagt, Jungfräulichkeit bedeute, dass man die Kronblätter der Blüte niemals zwingt, sich zu öffnen, sie niemals den verführerischen Duft versprühen lässt, der nur ein Vorzeichen ihres baldigen Todes ist. In der Knospe bewahrt die Blüte ihre Schönheit, aber öffnet sie erst ihre Blätter, werden sie zur Erde fallen, eins nach dem anderen, verwelken und sich zusammenrollen und nur einen nackten
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