Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
legen. Sie fragt, wann sie mit hinausdarf, und Uda zuckt mit den Schultern. Sie beordert das Kind nach einem willkürlichen Muster zu beten, lässt sie ansonsten häkeln, damit sie etwas hat, womit sie sich beschäftigen kann. Sie verteilt Streu auf dem Boden, obwohl die alte durchaus noch etwas länger hätte liegen können, und weil sie nichts Besseres zu tun hat, schüttelt siemehrmals am Tag die Decken des Kindes aus und glättet die Falten in ihrer Matratze.
Die Schlafkammer des Kindes ist so klein, dass es nur einen schmalen Streifen zwischen Bett und Wand gibt. Dort steht ein Schemel, auf dem sie während der Messe knien kann. Uda zieht den Vorhang am Guckloch zur Kirche ein wenig zurück, um das Kirchenschiff sehen zu können. Es brennen keine Fackeln, und der fünfarmige Kerzenleuchter am Altar ist leer. Nur oben unter der Decke sickert Winterlicht von beiden Seiten durch die Rundbogenfenster herein, fusselige Lichtbündel, die über dem Kirchenschiff die Klingen kreuzen. Zuerst bemerkt sie den Abt nicht, der aus der Sakristei kommt. Als sie ihn sieht, vermag sie nicht vom Fenster wegzugehen. Sie zieht den Vorhang vor, lässt aber einen fingerschmalen Streifen offen stehen. Abt Kuno steht vor Juttas Fenster und klopft mit seinem Fingerring gegen das Gitter, dass es summt. Er muss es mehrmals tun, bevor Jutta ihren Vorhang zur Seite zieht. Er spricht sie ehrerbietig an, verwickelt sich in gleichgültige Höflichkeitsfloskeln und findet wieder aus ihnen heraus. Er schlägt vor, dass sie zusammen beten, und Juttas Stimme dringt während des Gebets deutlicher zu ihr durch. Uda murmelt jedes einzelne Amen mit, bekreuzigt sich mit der einen Hand, ohne jedoch die andere von dem Vorhang zu nehmen. Danach ermahnt der Abt Jutta, Nahrung zu sich zu nehmen. Jutta antwortet etwas, das Uda nicht hören kann und das den Abt nur veranlasst, seine Ermahnung zu wiederholen. Er wechselt ins Lateinische, das Uda nicht versteht, und Jutta antwortet zunächst nicht, sagt dann aber dreimal deutlich Amen. Das Gespräch ist kurz, hier kann Jutta ihrem Abt nicht widersprechen.
Als Uda sich umdreht, steht Hildegard in der Türöffnung und sieht sie an. Im Gegenlicht haben ihre Augen die Farbepolierten Horns, durch die das Licht direkt hindurchfließen kann. Uda stemmt die Arme in die Seiten. Hör auf zu glotzen, will sie sagen, aber der Blick des Kindes macht sie stumm. Sie drückt sich an ihr vorbei und geht ohne ein Wort.
Als sie Scheite für die Feuerstelle geholt hat und zurückkommt, steht das Kind immer noch in der Türöffnung zwischen Gelass und seiner eigenen Kammer. Uda gefällt das nicht. Es ist, als könne die Kleine mit dem wachsamen Blick in stumme und leere Dummheit versinken, und Uda weiß nicht, was sie davon halten soll. Sie weiß, wie sich der Teufel schwacher Herzen bemächtigen kann, wie er als Frost ins Fleisch fahren oder die Zunge mit Stummheit schlagen kann. Obwohl sie das Kind noch nicht kennt, ist da etwas, das nicht stimmt. Etwas Fremdes und Unbändiges, etwas Einsames und Nachgiebiges. Das Mädchen spricht mit sich selbst und gestikuliert, dreht die Handflächen nach oben, legt den Kopf in den Nacken und starrt geradewegs zur Decke hinauf. Wenn Uda sie anspricht, reagiert sie sofort. Dann schiebt sie die Unterlippe nach vorne, als sei sie verärgert darüber, gestört zu werden, aber sie protestiert nie. Wenn Jutta endlich die Läden öffnet, muss Uda mit ihr darüber sprechen und darüber, wie das Kind erzogen werden soll.
Eine Woche nach der Ankunft beginnt Jutta zu essen, aber die Läden zwischen ihrer Zelle und der Hildegards sind immer noch geschlossen. Während Uda die Reste der Mahlzeit zum Küchenhaus trägt, steht Kuno wieder in der Kirche und klopft an Juttas Gitterfenster. Hildegard sitzt auf ihrem Bett und lauscht. Es klingt wie ein Specht an einem Stamm. Vier Klopfzeichen und eine Pause, vier Klopfzeichen und eine Pause. Sie zählt an den Fingern mit, und erst nach sechzehn Klopfzeichen zieht Jutta den Vorhang zurück. Kuno wird von einem Priester begleitet, der Juttas Beichtvater sein soll. Sie sprechenmurmelnd und leise miteinander, Hildegard kann nichts verstehen. Schritte sind im Kirchenschiff zu hören, eine dünne Stimme mischt sich ein. Kuno spricht streng zu dem Neuankömmling. Hildegard stellt sich auf den Stuhl und schiebt den Vorhang ein kleines Stück zur Seite. Es ist die alte Frau, die bäuchlings vor der Kirche lag, sie ist bleich, zittert und stützt sich an der Mauer ab,
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