Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
kehrt aber nicht um, obwohl Kuno sie wegschicken will. Der Beichtvater geht auf sie zu, aber Jutta bittet ihn, stehen zu bleiben. Sie will hören, was die Alte zu sagen hat. Kunos Schritte klatschen hart auf den Boden, die Kutte des Beichtvaters fegt über die Steine. Die Frau murmelt etwas, aber Hildegard kann nicht verstehen, was sie sagt, und klettert wieder herunter.
Es vergeht noch eine Woche, bevor Jutta die Läden zu Hildegard und Uda aufschlägt. Es ist ein Tag, an dem die Sonne hell scheint, ein selten schöner Tag an dem windigen Hang. Der Schnee ist zu Wehen zusammengestoben, die sich mannshoch rund um die Außenmauer der Kirche und des Dormitoriums ziehen.
»Es ist Zeit«, sagt Jutta. Hildegard lässt ihr Häkelzeug fallen, läuft zum Fenster und presst ihre Hände gegen das Gitter.
»Hildegard soll den Ort sehen, an dem sie wohnt, und bald wird die Unterweisung beginnen«, sagt Jutta. Uda stellt sich hinter das Kind und nickt. Jutta sieht nicht mehr krank aus, da ist ein frisches Glühen in ihren Wangen.
»Sie muss die Einrichtungen des Klosters kennenlernen«, fährt Jutta fort, »Hildegard wird zur gleichen Zeit beten wie die Brüder und ich, nur von der Matutin kann sie befreit werden, bis sie zwölf Jahre alt wird.«
Hildegard hat die Hände zurückgezogen.
»Nein«, sagt sie, »ich möchte nicht befreit werden.«
»Kinder müssen mehr schlafen als Erwachsene«, erklärt Jutta, »daher wird es so sein.«
»Nein«, sagt Hildegard trotzig, »ich brauche nicht mehr zu schlafen.«
Jutta hebt den Zeigefinger, und das Kind sagt nichts mehr.
»Latein am Montag, Mittwoch und Freitagvormittag. Und ich brauche weißes Leinen, damit ich ein Altartuch sticken kann«, sagt sie zu Uda. »Einer der Brüder möge den Altar aufzeichnen, und Hildegard soll das ungebleichte Leinen bekommen, an dem sie üben kann.«
»Ich kann schon sticken«, sagt Hildegard, ohne aufzublicken, »du hast es mir in Sponheim beigebracht.«
»Hier sticken wir für den Herrn. Da schadet etwas mehr Übung wohl nicht, oder?«, sagt Jutta streng.
Hildegard schüttelt den Kopf.
»Gut«, sie klopft sich mit zwei Fingern an die Stirn, als käme ihr etwas in den Sinn, das sie vergessen hat. »Wenn das Psalterium aus Italien ankommt, beginnen wir mit dem Musikunterricht, aber das wird erst so weit sein, wenn das Eis schmilzt und die Schiffe wieder Rhein und Nahe befahren.«
»Können sie es nicht mit dem Wagen herfahren?«, fragt Hildegard.
Jutta antwortet nicht, hebt aber wieder den Zeigefinger. Dann beordert sie Hildegard in deren Kammer, sodass sie unter vier Augen mit Uda sprechen kann.
Sobald das Kind weg ist, ruft Jutta Uda zu sich an die Gitterstäbe.
»Das Kind hat zu gehorchen«, sagt sie, und Uda nickt, ohne etwas zu sagen. »Sie soll sich in stille Gebete vertiefen, anstatt ihrem Mundwerk freien Lauf zu lassen.« Uda nickt wieder. »Siesoll nicht sprechen, ohne gefragt worden zu sein, und sie soll nicht protestieren oder Fragen stellen. Wir sind an diesen Ort gekommen, um unsere eigene Stimme aufzugeben und unsichtbar für die Welt zu werden. Ist das verstanden?«
Uda nickt und nickt. Sie ist nicht begierig darauf, dem Kind aus eigenen Stücken Restriktionen aufzuerlegen, sie tut ihr beinahe leid, eine kleine Pflanze, mit der Wurzel ausgerissen, in trockene und dürre Erde versetzt.
»Aber sie ist ein Kind«, sagt Jutta nachdenklich, als sei es ihr erst jetzt wieder eingefallen. »Sie ist weniger straffe Zügel gewohnt, auch von mir, wir müssen also behutsam vorgehen.«
Uda ist einig mit ihr. Sie müssen behutsam vorgehen. Sie wird mutig.
»Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, dass …« Sie faltet ihre Hände vor der Brust und zögert. »Ich meine«, sie hält wieder inne, seufzt und breitet die Arme aus, »sie ist nicht wie andere Kinder.«
Jutta schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt sie, »Hildegard hat eine Gabe, deren Umfang ich aber noch nicht kenne.«
Uda tritt ganz an die Gitterstäbe heran. Ihr Herz pocht, sie will gerne mehr wissen, wagt aber nicht zu fragen. Jutta schweigt lange.
»Umso mehr muss sie geformt werden«, sagt Jutta endlich, »sie ist ein Weinstock, der beschnitten werden muss, um die süßeste Frucht zu tragen.«
Den ganzen Tag über denkt Uda daran, was Jutta über den Weinstock gesagt hat. Jutta erlegte dem Kind für den Rest des Tages Schweigen auf, als Buße dafür, dass sie ihr patzig geantwortet hatte. Ein Tag Schweigen ist eine milde Strafe, das ist es nicht, was an Uda
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