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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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darauf, zu sehen, was er macht, aber es ist, als könne sie einfach nicht durchdie Türöffnung kommen. Uda geht weiter in den am weitesten entfernten Winkel der Weberei, wo das Stickgarn hängt – Docken aus gefärbter Wolle rechts, weißer Faden links. Hildegard sieht ihr nach, sieht ihren Rücken, das Kopftuch, die Art, auf die sie das eine Bein ein wenig nachzieht. Sie will ihr nachgehen, aber sie kann ihre Füße nicht bewegen.
    Eine Faust ist in der Luft, die Hildegard zurückhält, es braucht Zeit, sich aus ihrem Griff zu winden. Etwas zittert in der Luft, etwas strömt über ihrem Gesicht zusammen, etwas, das keine Form annehmen will. Es braucht Zeit, sich freizuwinden, aber als die unsichtbare Faust ihren Griff löst, stolpert sie zur Türöffnung hinein. Fast im selben Moment, in dem ihr Knie den Boden berührt, ist sie wieder auf den Beinen. Sie weiß sofort, dass nur sie sonderbare Laute hören kann, dass nur sie eine fremde Kraft von der Webstube weghalten will. Hier sind fleißige Hände, müde Augen, krumme Rücken, niemand sieht so aus, als bemerke er irgendetwas.
    Hildegard sieht nach unten, um loszukommen, sie versucht, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, aber das Zittern der Luft wird immer bedrängender, es brodelt und bebt und poltert. Sie richtet sich auf, faltet ihre Hände, tritt geradewegs in die lärmende Schau, die Luft ist nicht länger durchsichtig, sie entfaltet sich in ungeordneten Kreisen und Wellen, sprengt Stücke von der Dunkelheit, wird zu trockenem Regen, wird zu Blut, das aus Schlachtschweinen läuft, und Hildegard muss dem Blick der Dunkelheit begegnen, muss alle ihre Kräfte sammeln und das von sich wegstoßen, das Form annimmt: Grobe Hände, die losgelöst dicht vor ihrem Gesicht in der Luft tanzen, borstige, dunkle Härchen, zerfurchte Nägel. Hier drinnen hat ein Mensch um sein Leben gekämpft. Hier drinnen hat ein Mann einer Frau etwas angetan, das sieht Hildegard an denHänden, die kein anderer sehen kann. Sie streicht über ihren Hals, um Luft durch die Kehle zu zwingen. Es sind fremde Männerhände ohne Arme und ohne Körper, breite, gelbliche Knochen, Finger, die einen feinen und weichen Hals zusammendrücken und drücken und drücken. Es ist der Blick eines jungen Mädchens, nicht Benedikta, dieses Mädchen ist jünger. Aber ihre Angst ist die gleiche, sie hat die großen, blanken Augen eines Kalbes, den Mund eines Hechts.
    Es ist, als ob die unsichtbare Faust auch ihren Körper aufrecht gehalten habe. Jetzt, da sie loslässt, sinkt Hildegard zusammen. Die plötzliche Stille, Hände an den Webrahmen, die innehalten, ein Wollknäuel kullert davon und zieht einen flammenden Schweif hinter sich her.
 
    »Ist sie krank?«
    »Was ist mit dem Kind?«
    »Wie konnte sie so plötzlich fallen? Sie stand doch bloß da.«
 
    Uda eilt herbei. Sie packt Hildegard, zieht sie mit einem harten Griff am Oberarm hoch, zerrt sie hinter sich her aus der Webstube heraus, am Küchenhaus und den Ställen vorbei, quer über den Hofplatz. Hildegard stolpert hinter ihr her, lässt sich hochziehen, jedes Mal, wenn sie fällt, die ganze Welt atmet wie bei Frostwetter, verschwindet vor ihrem Blick, weiß und fusselig und fort. Vor der Mauer zum Innengarten lässt Uda das Kind los, um aufzuschließen. Sie versucht, sie aufrecht zu halten, indem sie sie mit dem Ellbogen gegen die Mauer drückt, aber das Kind entgleitet ihr. Hildegard versucht aufzustehen, kommt auf alle viere, ihre Hände sinken in feuchte Erde. Uda zieht sie am Kragen hoch, es schnürt ihr den Hals zu, Hildegard öffnet den Mund, aber es kommt kein Laut heraus.
 

 

10
      
Als sie mit Jutta alleine ist, spricht Hildegard wieder. Juttas ausdrucksloses Gesicht ist ein Segen, es ist ein leeres Gefäß, das die Worte entgegennimmt. Jutta hört zu, ohne zu fragen. Es ist gut, dass Hildegard zu erzählen wagt, es ist gut. Sie ist nach einem langen Winter erwacht.
    Hildegard schläft ein, kaum dass sie den Kopf auf das Kissen gelegt hat. Jutta lässt Bruder Jacob holen, den Chronisten des Klosters. Er steht in dem leeren Kirchenschiff mit dem Ohr an Juttas Fenster, die Stirn in die Handfläche gestützt und lauscht mit geschlossenen Augen. Ein paar Mal sieht er auf zur Decke und schlägt das Kreuzzeichen vor der Brust. Als Jutta aufhört zu flüstern, wird es still. Jutta lauscht Jacobs Atem, der flüchtig ist wie der einer Katze. Er sagt nichts, aber auch die Stille kann beredsam sein, und Jutta weiß, was er sagen wird,

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