Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
bliebe und sie ihn dann heiraten müsste. Bis dahin wollte er kein Bad mehr nehmen und seine Haare nicht mehr schneiden. Diese wurden grau und struppig - trotzdem glückte die Eroberung, und Gyda nahm ihn endlich zum Mann.
Runa schreckte aus ihren Gedanken hoch. Eben hatten sich Vater und Großmutter angeschwiegen, nun ergriff Asrun das Wort.
»Wir leben nur deshalb so einsam, weil du alle Männer fortgelockt hast. Du hast sie fortgelockt, weil du vor deinen Erinnerungen fliehst. Und diese Erinnerungen haben nichts damit zu tun, dass Harald die stolzen Männer dieses Landes unterwarf, sondern damit, dass du die Frau verloren hast, die du liebtest.«
Der ängstliche Ton, der Runa eben noch beunruhigt hatte, war aus Asruns Stimme geschwunden. Sie musste ihre Fassung wiedergefunden haben.
Der Vater schüttelte den Kopf, aber blickte immer noch nicht auf. »Das ist nicht wahr, und das weißt du auch. In unserer langen Ahnenreihe gab es immer Männer, die es nicht zuhause hielt, die fortzogen, um zu kämpfen, um zu handeln und um neues Land zu erforschen. Aber es gab stets auch solche, die zurückblieben, und wenn ich früher heimkam, habe ich sie hämmern und sägen und stampfen und klopfen gehört: unseren Weber, den Schmied, den Ledergerber und den Zimmermann. Nun höre ich nichts mehr. Was ist mit ihnen? Sind sie erfroren oder verhungert?«
»Die meisten von ihnen sind nicht tot, sondern in den Süden gegangen«, gab Asrun kleinlaut zu. Doch sogleich straffte sie wieder die Schultern und fuhr energisch fort: »Wir brauchen keinen von ihnen. Alles, was sie hergestellt haben, können wir selbst machen. Runa ist geschickt! Erst kürzlich hat sie einen Webstuhl geschnitzt und ...«
»Runa ist ein Mädchen ... eine Frau! Und du lässt sie in der Kleidung eines Mannes herumlaufen und den Stuhl, um diese zu weben, selbst fertigen? Im Nordmännerland, jenem Gebiet im Norden des Frankenreichs, das nunmehr uns gehört, wird sie es besser haben, sie ...«
»Wir brauchen auch dich nicht«, unterbrach Asrun ihn, ohne auf seine Worte einzugehen. »Du wirst keine Entscheidung über unser Leben treffen.«
Runa war zusammengezuckt, als der Vater vom fernen Frankenreich sprach, und nickte zu den Worten der Großmutter bekräftigend. Sie konnte sich kein anderes Leben denken als das friedvolle an Asruns Seite. Was zählte der Hunger, solange sie einander hatten, auf dem Schlafplatz gemeinsam einschliefen, morgens miteinander erwachten und dann der stillschweigenden Übereinkunft folgten, dass eine jede tat, was sie für richtig hielt? Manchmal runzelte Asrun die Stirn, wenn Runa zu früh im Fjord schwimmen wollte, aber sie verbot es nicht, so wie sie ihr nichts verbot. Wenn sich Runa zur Jagd rüstete, so stand keine Angst in Asruns Gesicht, weil die Jagd gefährlich war - nur Stolz, wenn sie mit Beute wiederkehrte. Und wenn Schnee und Eis sie nicht im Langhaus einsperrten, wanderten sie gemeinsam, meist einträchtig schweigend, die Ufer des Fjords entlang, manchmal so weit, dass man die Siedlung nicht länger sehen konnte, nur das offene, weiß schäumende Meer. Asrun sammelte dann die Eier und Daunen aus den Nestern der Eiderenten, und Runa fischte Getier, das nicht nur aus Gräten und zäher Haut bestand, sondern aus weichem, saftigem Fleisch, das - roh wie gebraten - im Mund zerging.
Ob es das beste Leben war, das man hier in Midgard, der Welt der Menschen, haben konnte, vermochte Runa nicht zu sagen, weil sie kein anderes kannte. Ein gutes musste es sein, sonst würden sie und ihre Großmutter sich nicht so wohlfühlen. Und in jedem Fall war es ihr Leben, nur das ihre.
»Hör zu«, fuhr der Vater fort. »Es scheint, du hast mich eben nicht richtig verstanden. Ich will Runa nicht einfach in die Fremde verschleppen, ich will sie in ein Land bringen, in dem man nicht hungert und friert, in dem die Weizenfelder üppig stehen und die Häuser aus Stein gebaut sind, in dem der Blick nicht von verschneiten Bergen verstellt wird, sondern auf fruchtbare Wiesen und Weiden und Weinberge fällt. Und wo das Wasser nicht schwarz ist wie die Augen Hels, sondern in der Sonne türkisfarben schimmert.«
»Aber das Land unserer Ahnen ist es nicht!«, hielt Asrun dagegen. »Willst du Runa und mich unter Menschen leben lassen, die nicht wissen, wer wir sind und von wem wir abstammen?«
Der Vater knirschte mit den Zähnen, hob nun erstmals den Kopf, aber starrte an Asrun vorbei. »Unsere Ahnen hätten liebend gern im Nordmännerland gelebt,
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