Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
nun pfeifender Wind am Flechtwerk zwischen den mit Lehm beschichteten Holzpfosten. Kein Fenster hatte das Haus, nur eine winzige Luke und ein Abzugsloch im Dach, durch das der Rauch hochstieg, den der Wind in alle Himmelsrichtungen blies. Runa stutzte. Ungewohnte Laute, die der Wind nicht übertönen konnte, drangen an ihr Ohr: Gemurmel, Getrappel, schließlich ein unmenschliches Brüllen. Es musste ihre einzige verbliebene Kuh sein, die so erbärmlich schrie.
Das Mädchen beschleunigte den Schritt, sah nun die ganze Siedlung vor sich liegen, auch den Stall für das Vieh, der viel zu groß für nur eine Kuh war, das Speicherhaus für Getreide, das sie seit Jahren nicht mehr bis zum Dach gefüllt hatten, Werkstätten und Bootsschuppen, Aborthäuschen und Badehaus.
All das war ihr vertraut, die siebzehn Jahre, die ihr Leben nun währte, hatte sie ausschließlich hier verbracht - die Augen hingegen waren nicht vertraut, Augen, die starr auf sie gerichtet waren. Sie waren Teil eines kunstvoll geschnitzten Drachenkopfes, und dieser saß auf dem Steven eines Schiffes, das lautlos in den Fjord gesegelt war. Unweit der Siedlung wurde es eben an Land gezogen - von einem halben Dutzend Männer, die wie zuvor Runa mit dem sumpfigen Untergrund zu kämpfen hatten. Das Gras wuchs, glatten Strähnen gleich, die den Meeresgott Njörd kitzelten, bis ins Wasser. Fluchend fanden die Männer schließlich Halt.
Runa duckte sich im Schatten eines der Häuser. Ein Drachenschwanz wuchs vom Heck des Schiffes aus ins Wasser. Das Eichenholz, aus dem er geschnitzt war, war morsch, die vielen kleinen Schuppen vom Seewind zerfressen, von Möwen verdreckt und dort, wo sie aus dem Wasser ragten, teilweise von Algen überwuchert. Blank gescheuert hingegen und prächtig bunt waren die Schutzschilde der Mannschaft, die am Schandeckel des Schiffes hingen, und obwohl sein Holz so brüchig schien wie das vom Drachenschwanz, reckte sich der Kiefernmast stolz in den Himmel und trug mühelos das Großsegel, das sich im Wind blähte und knatterte. An der Spitze des Mastes flatterte eine Wetterfahne - auch sie zeigte ein Tier, jedoch nicht den Furcht erregenden Drachen, sondern einen Raben, Odins Raben.
Ein spitzer Aufschrei wollte Runa entfahren, doch es gelang ihr, ihn zu unterdrücken. Auf der Jagd nach wilden Tieren, Mardern und Fischottern, aber auch Wildvögeln wie Lumme, Kranich oder Kiebitz hatte sie gelernt, jede Regung ihres Körpers zu kontrollieren. Das Leben in der kargen Natur war hart; es erteilte nur wenige Lektionen, aber diese standen wie in Stein gemeißelt da: Wer Lärm machte, vertrieb Tiere; wer nichts jagte, hatte nichts zu essen; wer nicht aß, verhungerte.
Runa wagte es, ein paar Schritte weiter vorzuschleichen. Jetzt konnte sie die Gesichter der Männer erkennen. Zwei waren damit beschäftigt, das Schiff mit schweren Tauen an Bäumen festzubinden; einer hockte am Ufer, um sich auszuruhen, ein anderer schleppte Kisten auf das Schiff. Und zwei weitere zerrten die Kuh aus dem Stall - die Kuh, die Runa so oft gemolken hatte, für die sie im Sommer ein Stück flache Sommerweide gesucht hatte, die sie über schlammige Wege inmitten von Sümpfen dorthin gezerrt und deren Heu sie streng rationiert hatte, um sie über den Winter zu bringen. In den letzten kalten Wochen hatte sie immer weniger Milch gegeben. Sie war abgemagert, hatte aber überlebt, und Runa war stolz darauf gewesen.
Früher, als sie noch mehr Kühe besessen hatten, waren diese von Sklaven gemolken worden - den gleichen Sklaven, die in den Mooren Torf gestochen und die Felder gedüngt hatten. Doch die meisten Sklaven waren noch vor den anderen Bewohnern der Siedlung verhungert, und die, die nicht verhungert waren, hatte die Großmutter schließlich freigelassen. Der Vater war wütend gewesen, ändern konnte er es nach der Rückkehr von einer seiner vielen Handelsreisen, die ihn nach Vik, nach Skiringssal oder noch viel weiter in den Süden führten, jedoch nicht. Und was hätte er den Worten der Großmutter auch entgegenhalten können?
»Es gibt doch jetzt nur mehr Runa und mich«, hatte sie erklärt. »Zu zweit überleben wir eher als in Gesellschaft dreier Sklaven, die nur darauf warten, uns im Schlaf zu töten.«
Nun war er also wieder einmal nach Hause gekommen, der Vater, den der Verlust der Sklaven mehr verärgert hatte als der Verlust von Schwestern und Brüdern, Basen und Vettern. Doch warum ließ er nun Kisten aufladen, wo er doch gewöhnlich Waren mitbrachte?
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