Tochter des Ratsherrn
gesenkt zu halten, reckte Marga nun doch ihren Hals. Sie musste einfach wissen, wohin Johanna so schnell rannte. Irgendetwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Suchend ließ Marga die Augen über die Menge schweifen, bis ihr Blick plötzlich auf etwas fiel, das sie noch weit mehr beunruhigte als die davonhastende Johanna. Konnte das etwa der Grund für die Eile der Magd sein? Und wenn ja, was hatte das zu bedeuten? Marga beschlich eine Ahnung, die so fürchterlich war, dass ihr der Schreck in alle Glieder fuhr. Für einen Moment vergaß sie ihre Vorsätze und stieß ein leises »Jesus, Maria und Joseph!« aus. Plötzlich drängte es sie mit aller Macht danach, die Frauen zu warnen und zur Umkehr zu bewegen. Sie mussten von hier verschwinden – ganz egal, wohin. Doch es war zu spät. Hinter ihnen hatte sich bereits jede Lücke geschlossen. Die wogende Masse schob die Frauen wie von selbst vorwärts. Sie waren gefangen.
Endlich hatte Vater Everard die Brücke erreicht. Dies war der richtige Ort für sein Vorhaben. Hier gab es keine Gaukler, die lautstark ihre Kunst zum Besten gaben, nur die Wechslerbuden und ein paar Stände mit verschiedenen Speisen waren hier zu finden. Zielstrebig ging er auf einen der Wechsler zu, der vor seiner Bude stand. »Wie ist dein Name, Münzmeister?«
»Nanno von Ochsenwärder, Vater«, antwortete der Mann erstaunt.
»Nanno«, begann der Priester mit einem Lächeln und legte seinem Gegenüber feierlich Zeige- und Mittelfinger auf die Stirn. »Der Herrgott im Himmel hat dich heute auserwählt, ihm einen Dienst zu erweisen. Im Gegenzug dazu werden dir all deine Sünden erlassen.« Nach diesen salbungsvollen Worten hielt er dem Mann sein hölzernes Kruzifix vor die Nase.
Nanno wusste nicht so recht, was der Priester von ihm erwartete, darum küsste er das Kreuz und faltete fromm die Hände.
Vater Everard nickte zufrieden und schlug ein Kreuz in der Luft.
»Amen«, sprach der nun selig lächelnde Münzmeister voller Überzeugung, nun von all seinen Sünden befreit zu sein.
»Deine Sünden seien dir vergeben, mein Sohn.«
»Danke, Vater!«
»Und nun besorge mir eine Kiste«, befahl der Priester unerwartet.
»Eine Kiste?«, fragte Nanno erstaunt.
»Ja, eine Kiste«, erwiderte der Geistliche ungeduldig. »Nun mach schon, oder willst du dir gleich wieder die Sünde des Ungehorsams aufbürden?«
Erschrocken schüttelte Nanno den Kopf und eilte gleich darauf los. Nur wenig später kam er tatsächlich mit einer stabilen Holzkiste zurück.
Vater Everard befahl ihm, sie umgedreht auf den Boden zu stellen, dann kletterte er ein wenig umständlich darauf. Er schirmte seine Augen mit einer Hand vor der Sonne ab und ließ den Blick suchend über die Menge schweifen. Wo, zum Henker, blieb nur diese Magd? Die Glocken läuteten nun schon eine Weile, und noch immer keine Spur von ihr! Vater Everard wollte nicht länger warten. Notfalls würde er seinen Auftrag eben ohne Johanna erledigen. Nichts konnte ihn mehr aufhalten – Gott würde ihm schon beistehen.
Der Kirchenmann schloss die Augen, breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken. Warm schien die Sonne auf sein Gesicht. Er lauschte den Glocken, deren göttlicher Klang die Sommerluft füllte. Voller Ehrfurcht begann er ein stummes Gebet. Seine Lippen bewegten sich ohne jeden Ton, inbrünstig flehte er um ein göttliches Zeichen, das ihn in seinem Vorhaben bekräftigen würde.
Er bemerkte nicht, dass die Leute um ihn herum zu starren begannen; sie stießen einander an und zeigten auf den seltsamen Geistlichen, der dort auf der Kiste im Gebet verharrte, und manch einer fing an zu kichern. Ein jeder fragte sich, was es mit dem Mann auf sich hatte, der ohne erkennbaren Grund seine Arme wie Flügel ausgebreitet hatte. Ihre Neugier war geweckt. Plötzlich rief einer aus der Menge: »Was ist mit Euch, Vater?«
»Ja, warum steht Ihr da rum?«
»Wollt Ihr etwa gen Himmel fliegen?«
Die Schaulustigen brachen in schallendes Gelächter aus. Darauf öffnete der Geistliche die Lider und richtete seinen Blick auf die Menge vor ihm. Abrupt verstummten die lästerlichen Stimmen. In seinen Augen lag etwas Dämonisches und Heiliges zugleich, und als er zu sprechen anfing, war ihm die Aufmerksamkeit der Umstehenden gewiss.
»Hört mir zu, ihr guten Leute. Ich bin Vater Everard aus dem fernen Friesland, und ich sage euch, heute ist ein großer Tag. Doch nicht etwa wegen des Krans, den unser Herrgott dieser Stadt geschenkt hat. Nein, Gott hat mich
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