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Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Tan
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hierher befohlen, um euch etwas zu verkünden.«
    Er ließ seine schwer gewordenen Arme sinken und machte eine bedeutungsschwere Pause. Mit Wohlwollen stellte er fest, dass die Bürger ihn gespannt anstarrten, und ließ ruckartig seinen linken Arm nach vorne schnellen. Erschrocken fuhren diejenigen, die nahe bei ihm standen, zurück. »Hier«, polterte er weiter und ließ seine vor Anspannung zitternde Hand mit gespreizten Fingern über die Köpfe gleiten, »hier, direkt unter uns, weilt das Böse. Ich kann es fühlen.«
    In den Mienen der Zuhörer spiegelte sich Neugier und Furcht zugleich. Die Frauen pressten ihre Kinder enger an sich oder schlugen die Hände vor den Mund, während die Männer eher kämpferisch dreinblickten.
    »Sagt, wo ist das Übel, von dem Ihr redet?«, erklang es von irgendwoher aus der Menge.
    »Ja, wir wollen unsere Kinder davor schützen!«
    Vater Everard nickte beipflichtend und verkündete mit lauter Stimme: »Das Böse, von dem ich spreche, kann überall sein. Es könnte gleich neben dir stehen«, spie er plötzlich aus und wies auf einen Jüngling, der aschfahl wurde. »Oder neben dir oder dir !« Sein Kopf lief rot an, und seine Stimme überschlug sich. »Ich sage euch, die Ausgeburt der Schlechtigkeit ist mir begegnet. Mit meinem Glauben als einziger Waffe habe ich diese bekämpft und schlussendlich enttarnt, sodass ich nun vor euch mit dem Finger darauf zeigen kann!«
    Die Menge gab ein anerkennendes Raunen von sich. Mehr und mehr ließen sich die Leute in den Bann des Geistlichen ziehen, waren hin- und hergerissen zwischen dem brennenden Wunsch, endlich das Fleisch gewordene Böse zu Gesicht zu bekommen, und der Furcht vor dem, was nun folgen würde.
    Vater Everard war nicht mehr aufzuhalten. Die Worte kamen ihm so leicht über die Lippen, dass er beinahe meinte, seine Zunge würde tatsächlich von Gott gelenkt. Nun musste er sich nur noch der ungeteilten Unterstützung der Menge versichern, und das erreichte er am besten, indem er den Menschen Schutz versprach.
    Wie im Rausch donnerte er, das Gesicht gen Himmel gewandt: »Mein Glaube an Gott ist stärker als du, Satan. Keinen Platz wirst du unter diesen braven Christenmenschen finden. Wir werden dich zerschmettern, wie es dir gebührt!« Dann richtete er das Wort abermals an die Hamburger. »Werdet ihr mir beistehen, wenn ich euch jetzt sage, in welcher Form mir der Teufel erschienen ist?«
    Ein zustimmendes Grölen aus unzähligen Kehlen war die Antwort. Die Menge war wie eine Meute blutrünstiger Hunde, die gierig verlangte, von ihm gefüttert zu werden – und der Geistliche war mehr als gewillt, ihrem Begehr stattzugeben.
    »Es ist eine Hexe – eine Hexe, die mitten unter euch ist, versteckt hinter einem lieblichen Gesicht! Ich allein habe den fauligen Geruch der Verderbtheit an ihr riechen können! Ihr kennt sie alle. Habt sie oft gesehen, tagein, tagaus mit ihr gesprochen. Einige wird es erschrecken, wenn ich ihren Namen ausspreche, andere werden vielleicht schon etwas geahnt haben. Die Hexe ist die Dame Runa von Sandstedt!«
    Schlagartig verstummte die Menge. Tatsächlich war Runa von Sandstedt ihnen allen gut bekannt. Sie hatten mit einem Bauernmädchen gerechnet, einer Fremden oder einer Gauklerin, doch niemand hatte einen solchen Namen in Erwägung gezogen. Der Name einer Bürgerin, der Tochter eines Ratsherrn. Auch wenn die Familie von Holdenstede in der jüngsten Vergangenheit stark in Verruf geraten war, so wog die Anschuldigung der Hexerei doch schwer.
    Der Priester war auf diese Reaktion vorbereitet gewesen. Erzürnt stampfte er mit dem Fuß auf, fuchtelte wild mit den Armen und schrie: »Ha, nun sehe ich euch zögern! Genau das habe ich mir gedacht. Was seid ihr doch für Zweifler! Ich sage euch, ihr lasst euch blenden von einem großen Namen und einer frommen Hülle! Das Böse versteckt sich gern hinter einem schönen Schein. Lasst nicht zu, dass es euch täuscht, ihr Leute!«
    Seine Worte zeigten Wirkung. Die ersten zaghaften Rufe wurden deutlich, und Vater Everard vernahm sie mit Wohlwollen.
    »Wenn das stimmt, dann müssen wir handeln.«
    »Richtig, aber was sollen wir tun?«
    In jenem Moment sorgte ein langer Kerl, der sich für seine Rede extra der Menge zugewandt hatte, für die entscheidende Wende. »Der Priester hat recht«, erklärte er. »Satan ist gewitzt und seine Tarnung meisterhaft. Wir sollten wenigstens versuchen, uns selbst davon zu überzeugen, ob Runa von Sandstedt reinen Wesens ist. Also, wer

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