Tochter des Ratsherrn
sie gehofft hatten. Kurz nachdem sie die Reichenstraße hinter sich gelassen hatten, mussten sie ihren Schritt verlangsamen. Überall waren Buden und Schrangen aufgebaut. Dazwischen gaben Gaukler und Quacksalber ihre Künste zum Besten. Vor jedem dieser Stände hatten sich Menschentrauben gebildet, die fasziniert oder einfach nur belustigt zuschauten. Godeke und Walther kämpften sich mit aller Kraft durch die dicht gedrängten Leiber. Es würde nicht leicht für die Frauen werden – schon gar nicht für Runa. Aber es war der sicherste Weg.
Entsetzt hatten Agnes und Johanna festgestellt, wie schmutzig die Laken waren, die zu waschen Marga ihnen aufgetragen hatte. Kein Wunder, dass sie diese Arbeit nicht selbst hatte erledigen wollen!
Bereits seit einer Ewigkeit harrte Johannes auf Knien aus und schrubbte und wrang die Laken, während Agnes wegen ihrer steifen Beine auf einem Schemel saß und von dort aus versuchte, die nicht zu deutenden Flecken mit einem Prügel zu bearbeiten.
»Was haben wir nur getan, dass wir ausgerechnet heute diese Laken waschen müssen?«, beklagte sich Agnes atemlos.
Johannes, der nicht minder außer Atem war, zuckte kopfschüttelnd die Schultern.
»Ich sage dir, Johanna, niemals hat mich die Herrin während eines Stadtfestes mit so einer harten Aufgabe bedacht. Ich frage mich wirklich, was der Grund dafür ist. Nun verpassen wir das schöne Kranfest.«
Es war Agnes deutlich anzusehen, wie traurig sie darüber war, sodass Johannes schwer ums Herz wurde.
»Na ja, vielleicht wäre es auch gar keine gute Idee gewesen, zum Fest zu gehen«, überlegte Agnes laut. »Möglicherweise hätten uns die Hamburger zu diesen Zeiten gar nicht dort haben wollen und uns mit Schimpf und Schande verscheucht, wie sie es derzeit mit allen von Holdenstedes und von Sandstedts machen. Trotzdem wäre ich gern hingegangen.«
Johannes nickte nur. Er selbst konnte sich das Ganze auch nicht erklären. Warum nur war es ausgerechnet heute so wichtig, diese verfluchten Laken zu waschen, wo er sich doch so dringend davonstehlen musste – natürlich unbemerkt! Schließlich wartete Vater Everard auf dem Fest auf ihn! Noch hatten die Glocken nicht geläutet, aber wenn sie ertönten und Johannes wäre nicht da, wäre der Geistliche sicher außer sich vor Wut. Johannes steckte in der Klemme. Wenn er jetzt verschwand, würde er seine geliebte Agnes enttäuschen, die natürlich denken musste, dass er sie mit der Arbeit allein ließ, um zum Fest zu laufen. Wenn er dagegen blieb, lief er Gefahr, dass Vater Everard Agnes aus Rache und purer Boshaftigkeit etwas antun würde. Was sollte er bloß tun? Seit dem Morgen fühlte er sich hin- und hergerissen, und die Zeit drängte.
Agnes gönnte sich eine Pause. Es war ein äußerst heißer Tag, und die Arbeit war anstrengend. Müde stemmte sie die Arme ins Kreuz, atmete tief ein und aus und blickte kurz gen Himmel. Genau wie Johannes lief auch ihr der Schweiß die Schläfen hinunter.
Johannes konnte seinen Blick kaum abwenden. Wie schön sie doch für ihn war! Trotz der verklebten Haarsträhnen, die an ihrer Stirn hafteten, und trotz ihrer schlichten Kleidung empfand er ihren Anblick als engelsgleich. Ihr Haar und ihre Brauen waren dunkel und ihre Augen braun. Lange Wimpern verliehen ihrem Gesicht etwas Liebliches, und obwohl ihre Hände von der Arbeit rissig waren, ihr Busen etwas zu flach und ihre Haut ein wenig zu gebräunt erschien, war sie für ihn vollkommen. Auch der Gedanke an ihre entstellten Beine konnte nichts daran ändern – seine Liebe war mit jedem Tag gewachsen, und mittlerweile fiel es ihm immer schwerer, sie zu verbergen.
Dennoch war er sich der Wahrheit schmerzlich bewusst: Agnes vertraute ihm – wegen seiner Verkleidung. Nur deshalb gewährte sie ihm ab und zu eine Umarmung oder flüsterte ihm ein Geheimnis ins Ohr. Diese Momente waren Johannes’ Lebenselixier, auch wenn er wusste, dass Agnes all das nur tat, weil sie in ihm eine Freundin sah – eine weibliche Freundin wohlgemerkt!
Plötzlich erklang das Geläut von Glocken. Laut und betörend zugleich trug es der Wind zu ihnen hinüber, kurz darauf ertönte lautes Gejubel.
Johannes wusste, dass es dem neuen Kran galt, der wohl soeben in Betrieb genommen worden war. Für ihn allerdings bedeuteten die Glocken etwas anderes: Sie waren das Zeichen zum Aufbruch, er musste gehen, und zwar sofort. Unendlich langsam erhob er sich, den Blick entschuldigend auf Agnes gerichtet. Was hätte er darum gegeben, sich
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