Tochter des Schweigens
stimmt.«
»Ich nehme an, es ist Ihre Version, die ich da eben gehört habe?«
In Galuzzis Stimme schwang leise Ironie.
»Die Frau Oberin hat genau das berichtet, was ich ihr gesagt habe. Ich werde es auch in einem offiziellen Bericht niederlegen.«
Zu Landons Überraschung lachte Galuzzi vor sich hin.
»Unser junger Advokat hat Glück mit seinen Freunden. Ihr Augenzeugenbericht wird selbstverständlich einen Punkt hinter den Vorfall setzen. Aber wenn Sie in den nächsten Tagen ein bißchen Zeit haben, würde ich gern ein Glas Wein mit Ihnen trinken und Sie über unseren Patienten konsultieren.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte Landon, »dankbarer, als ich Ihnen sagen kann. Aber ich verlasse Siena in ein paar Tagen. Ich heirate.«
»Oh, meine Glückwünsche!« sagte Galuzzi herzlich. »Signorina Lachaise ist eine wundervolle Frau. Alles Gute, mein Freund!«
»Auch Ihnen alles Gute«, sagte Landon dankbar. »Und nochmals vielen Dank.«
Die alte Nonne sah ihn seltsam an.
»Damit ist also Ihr Fall beendet, Herr Landon. Der meine fängt eben an. Ich danke Ihnen, und guten Tag.«
Landon fuhr Rienzis Wagen durch das Eisentor und hörte es hinter sich zuschlagen. Während sie durch das Tal auf die Höhenstraße zufuhren, saß Carlo zusammengesunken und schweigend neben ihm, fuhr über sein zerkratztes Gesicht und starrte mit leeren Augen auf die Straße. Nach einer Weile raffte er sich auf und sagte mit müder Stimme: »Ich danke dir, Peter.«
»Vergiß es.«
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut.«
»Vergiß auch das.«
Landon hätte kaum weniger sagen können, aber er hatte nicht den Mut, mehr zu sagen. Er wußte, daß er Carlo beim ersten Wort des Selbstbedauerns eins auf die Nase geben und ihn zu Fuß nach Siena zurückgehen lassen würde. Es war ihm klar, was er leiden mußte, aber er war immerhin bereit, einen Meineid zu leisten, um Rienzis Hals zu retten. Außerdem mußte er an Anna Albertini denken, wie sie gebrochen und verloren in ihrer Zwangsjacke hinausgetragen wurde.
Die Dämmerung senkte sich herab, als sie die Villa Ascolini erreichten. Zum Glück zogen sich gerade alle zum Abendessen um, so daß Landon Carlo mit einer Whiskyflasche und einem Siphon in der Bibliothek zurücklassen konnte, während er rasch nach oben lief, um mit Ninette zu sprechen. Sie hörte ihn schweigend an und sagte dann energisch: »Ich weiß, du bist wütend, chéri, aber du kannst dir jetzt nicht nachgeben. Ich weiß, wie schrecklich dir die Vorstellung ist, einen Meineid leisten zu müssen, und ich bin auch der Meinung, daß damit all deine Verpflichtungen abgetragen sind, aber wir können hier nicht nur immer in Soll und Haben denken. Carlo befindet sich in einer schweren Krise, und wir müssen ihm helfen, sie zu überwinden.«
»Meinst du nicht, es wird langsam Zeit, daß er sich selber hilft?«
»Glaubst du, das kann er in diesem Augenblick?« entgegnete Ninette. »Peter, siehst du denn nicht? Was er heute getan hat, muß ihm doch wie ein Mord vorkommen!«
»Und war es das denn nicht?«
»Wer weiß, chérí! Wer weiß, wie viel oder wie wenig nötig war, Anna endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen? Wer weiß, ob es nicht ohne Carlo viel früher passiert wäre? Verurteile ihn nicht. Noch nicht.«
Er nahm sie schweigend in die Arme, küßte sie und ergab sich mit einem schmerzlichen Lächeln.
»Also gut, Liebste, was soll ich tun?«
»Überlaß mir Carlo eine Weile. Geh du und sprich mit Valeria und Ascolini.«
»Glaubst du, es ist klug, es ihnen zu sagen?«
»Bestimmt.«
Landon war zwar keineswegs überzeugt davon, aber im Grunde war es ihm gleichgültig. Ninette ging in die Bibliothek zu Carlo, und Landon begab sich zu Ascolini. Der alte Herr nahm die Nachricht vollkommen ruhig auf. Er zuckte die Schultern und sagte:
»Für das Mädchen ist es natürlich schrecklich. Für uns – für uns alle – mag es die Chance sein, auf die wir gehofft haben. Carlo ist jetzt allein. Vielleicht findet er zu Valeria zurück.«
»Vielleicht. Es sieht aus, als gäbe es sonst nichts, wohin er sich wenden könnte.«
Der alte Herr sah Landon fragend an:
»Sie haben jedenfalls genug, nicht, mein Freund?«
»Mehr als genug. Wir verabschieden uns heute, dottore.«
Ascolini nickte. »Sie haben natürlich recht. Wenn ich Ihnen jetzt sage, ich bin Ihnen dankbar, dann ist das viel zuwenig. Lassen Sie mich Ihnen einfach sagen, daß Sie Ihre Schuld bei Carlo abgetragen haben und daß nun wir tief in
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