Tochter des Schweigens
weite Kreise zog. Ihre Augen strahlten, ihr Gesicht belebte sich zusehends.
»Sehen Sie den da oben? Als ich ein kleines Mädchen in San Stefano war, nannten wir ihn den Hühnerdieb. Wissen Sie, wie ich ihn jetzt nenne? Ich nenne ihn Carlo. Stundenlang schwebt er da oben, und man glaubt, er kommt niemals herunter. Dann, plötzlich, fällt er – plumps! – wie ein Stein.« Sie wandte sich lachend Landon zu, wobei sie ein wenig errötete. »Genau wie Carlo! Die ganze Zeit im Gefängnis und auch während der Verhandlung schien er so weit weg. Und jetzt – sehen Sie – jetzt ist er hier, bei mir, in diesem Garten.«
Landon warf einen verstohlenen Blick auf Rienzi, aber der beugte sich interessiert über eine Rose. Das Mädchen lachte wieder kindlich auf.
»Carlo glaubt nicht, daß er ein Falke ist. Er möchte gern so tun, als wäre er ein weiser alter Storch mit langen Beinen, einer langen Advokatennase und einer Brille darauf. Sie hätten bloß hören sollen, was er mir bei seinen Besuchen immer für Vorträge gehalten hat! Genau wie heute die Frau Oberin hat er geredet. ›Anna muß ein gutes Mädchen sein! Anna muß tun, was ihr gesagt wird. Sie muß lernen und ordentlich und geduldig sein!«
»Anna lacht über die falschen Sachen«, sagte Carlo.
»Sie haben mir einmal gesagt, ich müßte lachen!«
»Ich weiß, Kind, aber …«
»Ich bin kein Kind. Ich bin eine Frau. Das soll ich doch sein, nicht wahr? Das haben Sie doch vor Gericht die ganze Zeit gesagt. Und jetzt nennen Sie mich Kind.«
Sie brachte es schmollend vor, wie einen alten Vorwurf, während sie mit niedergeschlagenen Augen dastand und an ihren Nägeln kaute, als warte sie auf einen neuen Tadel von Carlo. Doch diesmal war er nachsichtiger. Er lächelte wohlwollend und sagte:
»Anna, was ich Ihnen sage, soll Sie befreien. Es geht Ihnen viel besser, als wir je zu hoffen wagten. Drei Jahre sind keine so lange Zeit. Und sie werden noch rascher vergehen, wenn Sie jeden einzelnen Tag bewußt erleben. Hier ist es doch schön. Die Schwestern sind freundlich. Und wenn Sie sich gut führen, bekommen wir Sie vielleicht schon früher hier heraus. Das alles ist doch nicht zum Lachen.«
»Aber ich bin schon so lange eingesperrt. Jetzt möchte ich frei fliegen wie der Hühnerdieb. Ich möchte wieder hübsche Kleider tragen und in Schaufenster sehen und …«
»Ich weiß, ich weiß.« Carlos Stimme wurde ganz sanft. »Aber ich werde ja zu Besuch herkommen, sooft ich kann. Ich werde Ihnen Geschenke mitbringen. Sie werden sehen, die Tage werden immer schneller und schneller vergehen. Es dauert ja schließlich einen ganzen Winter, bis der Frühling kommt – aber am Ende kommt er doch!«
Ihre Reue war die eines Kindes. Bescheiden sagte sie:
»Es tut mir leid, Carlo. Ich will versuchen, mich zu bessern. Ich möchte so gern, daß Sie mit mir zufrieden sind.«
»Das weiß ich, Anna. Und nun vergessen Sie es und lassen Sie uns von etwas anderem reden.«
Landon war das Ganze so peinlich, als habe er ein betrunkenes Liebespaar ertappt. Anna versuchte, Carlo zu verführen, indem sie an sein Mitleid appellierte, während er sich ganz väterlich gab. Wie lange sie das durchhalten würden, war nicht abzusehen. Allem Anschein nach bestand aber dieses Verhältnis schon eine ganze Weile und war beiden ganz natürlich geworden. Aber früher oder später würde es ein böses Erwachen geben.
Landon hatte bereits mehr als genug erfahren, aber er hielt es noch eine weitere halbe Stunde aus. Dann drängte erzürn Aufbruch, stieß aber mit diesem Vorschlag bei Carlo auf wenig Gegenliebe. Er warf einen Blick auf seine Uhr und meinte vorwurfsvoll:
»Also, wenn du glaubst. Ich werde Anna allerdings lange nicht mehr wiedersehen.«
Anna legte drängend eine Hand auf Rienzis Arm und sagte: »Bitte, Carlo! Könnten wir noch ein paar Worte allein miteinander sprechen, bevor Sie gehen?«
»Macht es dir etwas aus, Peter?«
Nein, es machte ihm gar nichts aus. Im Gegenteil, er war froh, in Ruhe eine Zigarette rauchen und zehn Minuten allein herumspazieren zu können, während die beiden ihre Geheimnisse austauschten. Carlo führte Anna die Steinstufen in den tiefergelegenen Garten hinab, kam aber rasch noch einmal zu Peter Landon zurück.
»Es tut mir leid, Peter«, sagte er hastig. »Das muß alles schrecklich langweilig für dich sein. Aber du siehst ja, wie es steht. Das ist nun mal ihr erster Tag hier. Sie ist ruhelos, und ich würde mir Vorwürfe machen, sie hier so
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