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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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zum ersten Mal gesehen hatte. Sie saß nach wie vor kerzengerade, allerdings etwas schief, und der rechte Mundwinkel schien ein wenig zu hängen. Oder war es mir vorher nicht aufgefallen?
Die Pflegerin brachte auch ihr eine Schale Tee, und Mia sagte, wir hätten Kuchen für sie dabei. Aprikosenkuchen. Ob sie jetzt schon etwas davon wollte? Tante Azai machte eine abfällige Handbewegung. Weg mit dem Zeug! Die Pflegerin zeigte ein verkrampftes Lächeln.
    Â»Wir hatten gerade ›Lunchtime‹, und eigentlich sollten wir jetzt ein Nickerchen halten. Wahrscheinlich sind wir müde.«
    Tante Azais Augen glitzerten böse.
    Â»Unsinn!«, zischte sie. »Ich bin überhaupt nicht müde. Und Kuchen esse ich, wenn ich Lust dazu habe. Hören Sie gefälligst auf, über mich zu reden, als ob ich schwachsinnig sei!«
    Die Pflegerin, dergleichen offenbar gewöhnt, steckte kleinlaut die Zurechtweisung ein, verneigte sich und ging. Als wir allein waren, brach Mia in fröhlichem Tonfall das Schweigen. Ich hätte Kurse belegt, würde jetzt fließend japanisch sprechen. »Fließend« war ein Euphemismus, den ich innerlich seufzend zur Kenntnis nahm.
    Die alte Dame warf mir einen Krokodilblick zu.
    Â»So? Wie hört sich das bei Ihnen an?«
    Ich räusperte mich.
    Â»Es ist natürlich keine leichte Sprache«, sagte ich auf Japanisch, »aber ich gebe mir Mühe und lerne jeden Tag dazu.«
    Â»Sie sollten weniger stark artikulieren«, sagte sie frostig. »Und was tun Sie so in meinem Haus?«
    Â»Japanisch lernen«, sagte ich, sodass es sich wie eine Entschuldigung anhörte. »Wir haben jeden Tag Hausaufgaben.«
    Â» So desu «, grunzte sie, bevor sie sich an Mia wandte und sozusagen an mir vorbeiredete.
    Â»Er hat Fortschritte gemacht. Und er hält auch seine Teeschale richtig. Und wie lange kann er am Boden knien?«

    Mia gab höflich Antwort.
    Â»Na ja, eine Stunde schafft er inzwischen. Dann schlafen ihm die Beine ein.«
    Â»Dann muss er noch üben«, sagte sie streng.
    Ich dachte: Schluss mit der Musterung!, und warf Mia einen flehenden Blick zu.
    Â»Willst du es ihr nicht sagen?«, fragte ich auf Deutsch.
    Sie antwortete salopp in der gleichen Sprache.
    Â»Ich kann es ihr sagen oder nicht. Wie du willst. Aber ich hielte es wirklich für angebracht, wenn du es ihr erklären würdest.«
    Ich bekam feuchte Handflächen. Fing ich nicht davon an, hielt sie mich für eine Flasche. Und schließlich war sie nicht dabei gewesen, als ich das Gespenst sah und die Notizen fand. Ich verzog den Mund. Es sollte wie ein Lächeln aussehen. Rein ins Gefecht also, du Feigling! Beweise dem Krokodil, wie gut du inzwischen Japanisch sprichst. Also setzte ich mein Gehirn in Bewegung, suchte die richtigen Worte und erzählte von der weiß gekleideten Frau mit den schwarzen Zähnen, die mir  – im Traum  – eine Schriftrolle überreicht hatte, die eigentlich für Mia bestimmt gewesen war. Und wie ich am Morgen danach meine Bettkissen im Wandschrank verstauen wollte und  – gomennasai , sumimasen  – zufällig auf ein Brett gedrückt und in einem Geheimfach alte Hefte gefunden hatte. Und dass ich Mia gebeten hatte  – sumimasen , gomennasai  –, mir den Text zu übersetzen.
    Â»Es war ja von Jan Letzel, dem Prager Architekten, die Rede. Das hat uns beide sehr neugierig gemacht …«
    Die alte Dame saß unbeweglich da, verzog keine Miene und sagte kein Wort. Mir brach der Schweiß aus.
    Â»Gewiss haben wir uns indiskret verhalten, weil es sich ja schnell herausgestellt hat, dass die Notizen von Ihnen stammten. Gomennasai! Vielleicht hätten wir nicht weiterlesen
sollen. Aber wir dachten, dass wir mehr über Letzel erfahren könnten. Was ja auch zutraf …«
    Ich stockte, sah sie flehend an. Sie erwiderte kalt meinen Blick und ließ mich zappeln. Sie war so erzogen oder strukturiert, dass sie nur dasaß, die Hände unter den Ärmeln verschränkt, und sich nicht um Haaresbreite rührte.
    Ich rutschte hilflos hin und her. Ich fand einfach keinen Zugang zu ihr. Ob das an ihrem Alter lag?
    Â»In den Aufzeichnungen … haben Sie die gleiche Frau erwähnt, die ich auch gesehen habe. Das ist äh … nicht normal, finden Sie nicht auch?«
    Aus ihrem Ärmel schoss ein Finger, der sich ruckartig bewegte.
    Â»Was

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