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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Frau, die bequemer sitzen will. Wir starrten sie atemlos an. Für eine kleine Weile war sie still, bevor sie mit der flachen Hand behutsam über die Notizhefte strich.

    Â»Solches Papier gibt es heute nicht mehr. Es reißt sofort ein und saugt die Tinte auf. Aber damals hatten wir nichts anderes. Jedenfalls war es ganz brauchbar. Ich führte regelmäßig Tagebuch. Es war einfach eine Gewohnheit von mir. Nachdem mein Mann gegangen war«  – Tante Azai benutzte die japanische Form für »gestorben«  –, »habe ich vieles vernichtet. Irgendwann verlieren die Eintragungen an Bedeutung. Man soll sich auch nicht zu wichtig nehmen. Als ich jedoch bemerkte, dass mein Kopf hin und wieder verrückt spielte und ich mich mit Mühe erinnerte, musste ich vernünftig handeln. Es lohnte sich wohl, gewisse Aufzeichnungen zu bewahren. Welchen Wert haben Kenntnisse, wenn man sie nicht mit anderen teilt? Die Frage beschäftigte mich von vornherein, machte ich mir doch meine ersten Notizen vor … nun, ich kann nicht mehr rechnen … sagen wir mal, vor neunzig Jahren. Damals, als junges Ding, war ich sehr verwirrt. Heute bin ich fest dem Gedanken verhaftet, dass das Leben prinzipiell ein Wunder ist, und dass wir die verborgenen Dinge akzeptieren sollten. Sie gehören einfach dazu. Die Wissenschaft stürmt in Erkenntnissen voran, die Vernunft folgt, die Bildkraft bleibt auf der Strecke. Nun, wir haben ein mörderisches Jahrhundert hinter uns, das ist vielleicht der Preis. Unser Kopf wird eine Denkmaschine, wir hetzen durchs Leben, als ob wir nur Beine hätten, die herumlaufen, und Arme, die dieses und jenes tun, während das, was sich in unserem Herzen abspielt, rücksichtslos ignoriert wird. Wir strapazieren uns unnötig und werden erst im Alter ruhiger. Und merken dann plötzlich, dass wir von Bildern umgeben sind. Nichts ist verloren, alles ist da, gegenwärtig. Und ich muss feststellen, dass ich den Menschen immer weniger zu sagen habe und dass mir an dem Bild meiner Vorfahren mehr gelegen ist als an einem Bild von mir selbst. Unser Stamm ist der mächtige Koga-Klan, wir gehörten zur
Zunft der Zimmerleute. Wir waren die Geheimagenten der Daimyo, unser Beruf war ein sehr ehrenvoller. Gesellschaftliche Zwänge galten für uns nicht. Unsere hohen Auftraggeber begegneten uns mit Respekt, hielten wir doch ihren guten Ruf, ja, ihr Leben, in unseren Händen. Jede Familie achtete streng auf das Geheimhalten der eigenen Methoden. Die Koga wurden in der Methode der Togakure -Schule unterwiesen, die über tausend Jahre alt ist. Unlängst erfuhr ich, dass heutzutage Agenten der CIA und des Mossad nach dieser Methode geschult werden. Das finde ich ausgesprochen komisch. Aber im Grunde missfällt es mir, dass unsere Vergangenheit popularisiert oder verniedlicht wird. Die Ninja-Schildkröten … so ein Quatsch! Unsere Vorfahren  – Männer und Frauen  – waren starke, stolze Menschen. Ihr psychisches Niveau war höher als das ihrer Zeitgenossen. Es waren bereits Schritte auf das Moderne zu. Das mag sich vermessen anhören, aber Bescheidenheit wurde von uns nie gefordert. Tatsache ist, dass wir eine spezielle Begabung für Naturwissenschaft und intellektuelle Berufe zeigen. Und es ist durchaus kein Zufall, dass Mia und Isao Architekten wurden. Das liegt uns im Blut. Vormals glaubte das Volk, dass die Zimmerleute mit den Erd- und Waldgeistern in Verbindung standen. Die Baumeister waren wie Priester, Hüter eines uralten Mysteriums. Denn die Baukunst ist nicht nur eine exakte Wissenschaft, sondern eine Liebesgeschichte zwischen Menschen und Göttern, und einst wusste es jeder. Es begann damit, dass die Zimmerleute Shoden erstellten  – Lagerhäuser für die heiligen Gegenstände. Im Laufe der Zeit wurden aus den Shoden selbst Heiligtümer, größere und kleinere. Und das wichtigste Heiligtum Japans war der Schrein von Ise, der jeweils in einem Zeitabschnitt von zwanzig Jahren erneuert wurde. Warum? Nun, es gab einen praktischen Grund: Das Dach war aus Schilfstroh und einem schnellen Verfall
ausgesetzt. Aber es gab noch einen zweiten Grund: Wie eine schöne Frau, die ihre Schminke entfernt und frisch aufträgt, musste das Heiligtum stets sauber und strahlend sein, um den Kami   – den Gottheiten  – zu gefallen. Dazu bedeutete die Erneuerung des Schreins eine symbolische

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