Tochter des Windes - Roman
verstehen Sie unter normal, bitte?«
Bei ihr hatte Genauigkeit offenbar Priorität. Aber das war immerhin erfreulicher, als hätte sie mir einen Rüffel erteilt, weil ich in ihrem geistigen Panoptikum wühlte.
» Sumimasen , unüblich wäre vielleicht das geeignetere Wort.«
»Yoshi !«, zischte sie, was eine Zustimmung war, eine überhebliche allerdings. Sie war wirklich nicht einfach, die alte Dame. Und gaga? Nicht einmal im Traum!
Ich grinste zerknirscht.
»Ja, und nachdem mir Mia alles übersetzt hat, höre ich nicht auf, mir Fragen zu stellen â¦Â«
»Ach, welche Fragen denn?«, entgegnete sie mit einer Spur von Neugier.
»Nun, mich würde zum Beispiel interessieren, was ich mit dieser Sache zu tun habe?«
»Schade«, entgegnete die Tante eisig, »schade, dass Sie es nicht verstehen. Sie können nichts dafür. Es wächst Ihnen vermutlich über den Kopf.«
Das war nicht sehr nett, was sie da sagte. Aber ich wollte
sie nicht herausfordern, zeigte Gleichmut. Sie wartete auf eine Antwort, die nicht kam, und zuckte mit einer Schulter, als wollte sie sagen: Da kann man nichts machen, der Mann ist beschränkt. Und fügte gleich hinzu: »Ich sage das offen. Von der Nichte und dem Neffen ist auch nicht viel zu erwarten. Andere Generation. Dekadent.«
Besonders delikat, dachte ich und sah Mia an, die sittsam die Lider senkte und nichts zur Aufbesserung der Stimmung beitrug.
»Klar doch. Hatte diese Generation nicht ein lustigeres Leben geführt als die vorherige, für die es nur Disziplin und Verzicht gab?«
»Bei Ihnen ist es nicht dasselbe«, fuhr die alte Dame, zu mir gewandt, fort. »Sie denken natürlich anders darüber.«
Worüber dachte ich anders? Ich verlor allmählich den Faden. Hielt sie mich für weniger degeneriert, weil ich Gespenster sah? Ich erwiderte, wobei ich mir die japanischen Wörter sorgfältig zurechtlegte, dass ich im allgemeinen Träume nicht mit Wirklichkeit verwechselte, und dass mir die Sache doch recht stressig vorkam.
Sie parierte.
»Stressig ist ein Wort, das solchen Ereignissen nicht gerecht werden kann.«
Da hatte sie auch wieder recht. Aber weil ich mich etwas behaupten musste und ihre Bemerkung nicht unwidersprochen stehen lassen wollte, griff ich zu einer bequemen japanischen Floskel.
»Ich will damit sagen, dass ich das alles omoshiroi finde.«
Sie lieà es gelten.
» Omoshiroi . Hai, so desu! «
» Omoshiroi «  â interessant  â kann man in Japan für alles Mögliche verwenden, für Kalbshaxe, für den »Ritt der Walküren« und für David Foster Wallace. Aber das Wort, so wie
die alte Dame es aussprach, musste eine besondere Bedeutung haben. Na gut, immerhin hatte ich mir keinen Patzer geleistet. Mit Omoshiroi zog man sich immer aus der Affäre.
Inzwischen tastete die alte Dame nach ihrer Teeschale, trank einen Schluck und lieà ein schmatzendes Geräusch hören. Dann wandte sie sich Mia zu, streckte die Hand aus. Die Notizhefte, bitte! Mia überreichte sie ihr, mit beiden Händen und zeremoniellem Respekt. Die alte Dame brummte irgendetwas, offenbar etwas sehr wenig Respektvolles. Ihre spindeldürren Finger blätterten die Seiten um. Schweigen im Raum. Mia und ich rührten uns nicht. Ich sah es schon kommen, gleich würde sie uns an die Luft setzen. Doch sie sah auf, wobei die Falten in ihren Augenwinkeln zuckten. Ihre Augen hatten plötzlich einen trüben Schimmer, wahrscheinlich blendete sie das Licht.
Unvermittelt sagte sie: »Ich werde reden, und Sie werden mir zuhören. Und bevor Sie irgendwelche Fragen stellen, bedenken Sie, dass ich sehr alt bin und Erklärungen mich anstrengen. Ich werde nicht nur über Fakten berichten. Manche Dinge erfinde ich vielleicht, aber ich hatte Zeit genug, mir darüber Gedanken zu machen. Und sie könnten sich durchaus so zugetragen haben. Darüber hinaus spielt das heute keine Rolle mehr. Es geht lediglich darum, der Geschichte gerecht zu werden. Und ich will auch nicht unterbrochen werden. Ist das klar?«
Mia und ich brauchten nicht einmal einen Blick zu tauschen. Uns blieb buchstäblich die Luft weg. Wir verneigten uns im Takt und in gleicher Höhe und riefen unisono: » Oneigai-shimasu! « Was ungefähr bedeutet: »Wir nehmen es dankbar an.«
Sie bewegte sich ein wenig über ihre angewinkelten Knie, wie eine
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