Tochter des Windes - Roman
überfahren wird. Unsere Fähigkeit, aus gewissen Schockvisionen eine Warnung zu ziehen, mag aus einem Instinkterbe kommen, das wir in uns tragen. Und dies wiederum mag dazu führen, dass wir aus der Einbildung heraus die Vorfahren zu sehen glauben, von denen ein Teil  â ein winzig kleiner zwar  â in unserer DNA noch besteht. Ich sehe es als ein in archaischen Schichten wurzelndes, genetisch verankertes Erbe. Ein GroÃteil unseres Gehirns ist zelluläres Brachland, welches noch der ErschlieÃung harrt. Und so mögen affektgebundene Ereignisse in unserer Geschichte unser Verhalten steuern. Könnte es sein, dass diese Kräfte aus der Vergangenheit fähig sind, unmittelbar auf die Gegenwart einzuwirken, und zwar auf direktem Weg, indem sie auf das einzelne Individuum Druck ausüben? Ãber diese Frage zerbreche ich mir den Kopf. Vielleicht liegt es an mir, dass ich es nicht verstehe.
Was aus meinen Verwandten wurde? Nun, sie hatten die Stadt rechtzeitig verlassen. Denn warum hatte der Feind Hiroshima verschont, während andere Städte zerbombt worden waren? Doch nur, weil die Atombombe ihre Zerstörungskraft über einer intakten Stadt beweisen sollte. Yuki erzählte mir Jahre später, dass auch sie von bösen Traumen heimgesucht worden war und mein Telegramm ihre Unruhe nur bestätigt hatte. Yuki hatte Glück: Mann und Sohn
kamen unversehrt aus dem Krieg nach Hause. Doch die Familie zog aufs Land und kehrte nie wieder nach Hiroshima zurück.
Was mich betrifft: Auch ich hatte Glück. Meine Schwester und ihr Mann überlebten, und auch Matsuo konnte sein Studium wieder aufnehmen. 1953 lernte ich im Krankenhaus einen Orthopäden kennen, der die Kriegsjahre in einem Militärkrankenhaus in Manila verbracht hatte. Auch Takeo hatte seine Eltern verloren, und seine Frau war an Schwindsucht gestorben. Wir heirateten ein Jahr später, arbeiteten im gleichen Krankenhaus und verbrachten bis zu Takeos Tod im März 1982 viele glückliche Jahre. Auch als pensionierte Witwe sah ich keinen Grund, meine Arbeit aufzugeben. Doch ich hatte genug vom Krankenhaus und führte bis 1990 eine Privatpraxis. Als es mir zu viel wurde, übergab ich die Praxis meinem langjährigen Assistenten. Danach verbrachte ich einige ruhige Jahre. Ich widmete mich dem Teekult und der Kunst des Schönschreibens, wozu ich früher nie die Zeit gehabt hatte. Auch sann ich der Vergangenheit nach und schrieb meine Erinnerungen auf, die für mich immer gegenwärtiger wurden. Und meine Fantasie, die ich jahrelang nicht beachtet hatte, entwickelte sich auf besondere Art. Alle Dinge von früher standen vor mir, als wären sie gestern geschehen. Das Gestern war es, das ich vergaÃ. Auch machten mir meine Schwindelanfälle zu schaffen. Ich wusste, was mit mir los war. Nichts Erfreuliches allemal, aber so enden wir alle. Ich brauchte einen Pflegeplatz und hatte mich auf eine Liste setzen lassen. Man muss manchmal sehr lange warten, bis ein Platz frei wird, und als es kurz vor meinem neunundneunzigsten Geburtstag endlich so weit war, verlieà ich mein Haus ohne Bedauern. Meine Sachen habe ich in Ordnung gebracht, das Testament liegt beim Notar. Und das ist alles.
24. Kapitel
H ier endeten Tante Azais Notizen. Mia und ich starrten uns an, einigermaÃen erschlagen. Ich sah mich denken, wie ich noch nie gedacht hatte, und war doch unfähig, meine Skepsis zugunsten von irgendetwas Irrationalem aufzugeben. Banal war die Sache gewiss nicht. Aber alles Mystische fand ich fragwürdig.
»Unvorstellbar!«, brach ich das Schweigen.
Mia zuckte mit den Schultern.
»Ich habe dich ja gewarnt!«
Ich sagte: »Was sie erlebt hat, geht unter die Haut. Und das lässt sich auch gut nachvollziehen, es waren ja furchtbare Zeiten. Aber diese Verklärung ist nicht zu überbieten!«
Mia wollte antworten. Hustenreiz schnitt ihr das Wort ab. Ich holte ihr ein Glas Wasser. Sie trank gierig, bevor sie sich mit dem Handrücken über ihr nasses Kinn strich und sagte: »Komm, Rainer, spiel nicht den Coolen! Diese Geschichte stachelt unsere Fantasie zu sehr an. Wir werden in dieser Nacht kein Auge zutun.«
Ich nickte düster.
»Wir werden über Katastrophen nachdenken. Das haben wir jetzt davon. Und nur weil deine Tante ihre gruseligen Erlebnisse festhalten wollte und sich fünfzig Jahre später ans Schreiben gemacht hat.«
Was den wachen Verstand anging,
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