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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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vorstellen. Ich nehme eher an, dass Letzel ihn bei der Abreise wieder mitgenommen hat.«
    Â»Das soll mir Tante Azai sagen!«
    Â»Weißt du«, sagte ich, »in ihren Memoiren macht sie den Eindruck einer angenehmen Frau. Sie hat Schweres durchgemacht, zeigt sich einsichtig und menschlich. Aber wie bringen wir sie zum Reden, wenn ihr nicht der Sinn danach steht?«
    Â»Da wird uns schon etwas einfallen.«
    Â»Sie gibt sich ja nicht einmal Mühe, höflich zu sein.«
    Â»Hundertjährige haben Narrenfreiheit. Wir in Japan finden das entzückend.«
    Ich hob die Augen zur Decke.
    Â»Wirklich? Und ich habe Angst, vor ihr den Mund aufzumachen …«
    Â»Dein Japanisch wird allmählich erträglich. Das wird sie schätzen.«
    Â»Und freundlich zu uns sein?«
    Â»Für ihre Aufgeschlossenheit gegenüber persönlichen Fragen
kann ich nicht garantieren.« Mia klaubte ihr Handy hervor. »Um diese Zeit sollte sie noch ansprechbar sein …«
    Ich seufzte abgrundtief.
    Â»Muss ich wieder vor ihr auf dem Puppenstuhl sitzen?«
    Â»Dir fehlt es an Respekt und Feingefühl! Die Einrichtung ist nach den Maßen der alten Leute gebaut«, sagte Mia und gab eine Nummer ein. Nach einer Weile ertönte ein Geräusch, als ob sich jemand den Hals klärte.
    Â» Moshi, moshi? «, krächzte in der Ferne eine unwillige Stimme.

25. Kapitel
    W ir machten uns also auf den Weg zum Altersheim. Es war Sonntag, gleich nach dem Mittagessen. Besuchszeit ab vierzehn Uhr. Mia hatte weiche Aprikosenkuchen gekauft, mit viel Sahne. Das Kuchenpaket balancierte ich, so gut es ging, im Gedränge der U-Bahn. Wir hatten beide Lampenfieber. Was war von dem Krokodil zu erwarten? Womöglich würde sie unseren Besuch als zudringlich empfinden. Und auch keine Erklärung abgeben, weil ihr Gedächtnis streikte.
    Â»Wahrscheinlich weiß sie nicht mehr, ob sie acht oder hundertacht ist«, meinte Mia illusionslos. »Aber na ja, vielleicht hat sie einen Gedankenblitz, wenn sie ihre Notizen in der Hand hält.«
    Â»Ich weiß immer noch nicht, ob es klug ist, mit ihr darüber zu reden …«
    Mia gab zu, dass unser Verhalten in der Tat nicht sehr taktvoll war. Meinerseits hatte ich die gleichen Bedenken.
    Â»Was, wenn wir ihr zu nahe treten?«
    Mia schob resigniert die Schultern hoch.
    Â»Dann wird sie nicht viel Umstände machen: Raus mit euch!«
    Â»Und wie erfahren wir dann, was wir wissen wollen?«
    Mia erwiderte, das Risiko müssten wir eingehen. Sie setzte hinzu: »Aber die Hefte bist du dann los.«
    Â»Ja, und den Geist, den ich nicht gerufen habe, hoffentlich auch!«

    Das Altersheim war genauso wie ein paar Monate zuvor. Mit dem einzigen Unterschied, dass der Garten, wo eingemummte kleine Gestalten ihren Rollator schoben oder auf Bänken dösten, jetzt winterlich kahl war. Wir grüßten, und sie grüßten gemessen zurück. Einige reagierten nicht, starrten durch uns hindurch, als seien wir Luft. Diese alten Leute sahen wie welke Blätter aus, die ein Windstoß davontragen konnte. Welke Blätter werden zu Staub, und mir kam Mutters Ausdruck »körperlicher Zerfall« in den Sinn. Die Religionen sagten es eleganter, aber meinten das Gleiche. Ich musste wohl in Japan etwas weiser geworden sein, denn mich überkam, während ich sie höflich mit den Blicken streifte, ein Gefühl erstaunlicher Gelassenheit. Wie viele Jahre blieben mir noch, bis ich auch so wurde? Mindestens vierzig, wenn alles planmäßig lief. Carpe diem , Rainer, du gehörst noch nicht zum Klub!
    Die freundliche Empfangsdame führte uns in ein ähnliches Besuchszimmer wie beim ersten Mal und servierte uns zwei Schalen mit fast durchsichtigem grünem Tee, während wir eingeklappt auf den winzigen Stühlen saßen. Dann ertönte ein Schlurfen: Eine Pflegerin führte die alte Dame herein. Bei ihrem Anblick hatte ich das sonderbare Gefühl, dass sie mit Spinnweben umwickelt zu sein schien. Alles war weiß und verschleiert an ihr, die Haut, die Augen, das Haar, sogar ihre Yukata ; die Schärpe allerdings war blau, und sie trug eine Kette mit schönen grauen Perlen um den Hals, der dünn war wie der eines Kindes. Wir sprangen auf, verneigten uns. Die Pflegerin zog der alten Dame die Filzpantoffeln von den Füßen und half ihr, sich auf der Tatamimatte niederzulassen. Fünf Monate waren vergangen, seitdem ich sie

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