Tochter des Windes - Roman
Blindheit vielleicht? War er nicht willens oder in der Lage, die Realität zu sehen? Oder nahm er sie, wie Tante Azai andeutete, als etwas Irreales, entzog er sich auf diese Weise der unangenehmen Pflicht, sich den Tatsachen zu stellen? Vogel Strauà steckte den Kopf in den Sand. Mir kam dieses Verhalten sehr bekannt vor, ach ja, ach ja!
Ich sagte vorsichtig: »Tante Azai gab uns zu verstehen, dass Masahiro Probleme hat.«
»Oh, wirklich? Probleme?«, murmelte Isao.
Ich blickte ihn an und konnte in seinen Augen keinen Funken von Arglist erkennen. Er wirkte in seiner Verwunderung absolut glaubhaft, absolut ehrlich. Ich fand das unsinnig, aber ich kannte dieses Nicht-sehen-Wollen einer bestimmten Situation. Eskapismus nannte man das. Dass aber Tante Azai das herausgefunden hatte, war ebenso abstrus wie die ganze übrige Geschichte.
»Was weiÃt du von Masahiro?«, fragte Mia sehr behutsam. »Wie steht es mit seiner Familie?«
Er runzelte die Stirn, begann zögernd zu erzählen. Er hatte Masahiro in einem Host-Klub kennengelernt. Er servierte dort Drinks, wobei er ein buntes Gewand mit wehenden Ãrmeln trug. In Japan war das nichts Ungewöhnliches, lieà ich mir von Isao erklären, solche Pagen in Mädchengewändern gab es bereits im Mittelalter. Doch Masahiros eigenartiges, bezauberndes Gesicht und seine rätselhaften Augen waren Isao aufgefallen. Das war kurz nach seiner Scheidung gewesen. Er war einsam und nicht im Gleichgewicht. Masahiro
sprach mit leiser, trauriger Stimme, und er sprach gut. Isao verabredete sich ein paarmal mit ihm. Er begriff nicht richtig, was er für Masahiro empfand, jedenfalls gewann der junge Mann sein Herz. Was er von Masahiro wusste? Er kam aus einer intellektuellen Familie, brillant, sehr ehrgeizig. Sein älterer Bruder brachte hervorragende Schulnoten nach Hause, glänzte im Sportunterricht. Masahiro war schwach in der Schule, malte wunderschöne Blumenbilder. Das zählte in dieser Familie nicht. Masahiro war empfindsam, langsam im Denken. Weil er sich vernachlässigt fühlte, machte er auf Verweigerung. Er schwänzte die Schule, brach sein Studium ab, zog von zu Hause aus. Den Eltern machte das Kummer, sie waren beleidigt und schmollten. Der ältere Bruder mokierte sich über ihn. Er hatte für den Kleinen nichts als Geringschätzung übrig. Masahiro hatte sich durchgeschlagen und dabei davon profitiert, dass er smart und liebenswürdig war. Der Vater war inzwischen gestorben, der Bruder begann eine steile Karriere in der Telekommunikation. Masahiro wollte malen, nichts als malen, aber er brauchte Geld. Und der Host-Klub lieà ihm tagsüber viel Zeit. Die Mutter und der ältere Bruder straften ihn mit stillschweigender Verachtung. Nach einiger Zeit brach Masahiro jeden Kontakt mit ihnen ab.
Isao drückte es sehr bildhaft aus: Er hatte den Eindruck, dass Masahiro sein lächelndes Gesicht mit den Bruchstücken eines Spiegels verdeckte. Drogen? Ja, das konnte wohl sein. Isao sah betreten aus. Bevor wir ihn darauf angesprochen hatten, hatte er nicht darüber nachgedacht, nicht darüber nachdenken wollen . Isao fühlte sich auf einmal sehr schuldig.
Kommunikationsprobleme, dachte ich, Vertrauensdefizit. Ach Gott, ja, das gab es auch bei uns. Ich fragte vorsichtig: »Könnte es sein, dass Masahiro mit dir darüber reden wollte, sich aber nicht traute?«
Isao nickte vor sich hin.
»Ich war einfach gerne bei ihm, ohne Plan, aber jetzt werden wir die Sache in Ordnung bringen«, sagte er schlicht, und das war alles, was wir an diesem Abend noch sagten. Denn wir hatten schon zu viel geredet, er wollte nichts mehr hören, und er hatte sogar recht damit, denn niemand sollte sich auf diese Weise dem inneren Selbst eines Menschen nähern. Aber immerhin, der Stein war ins Rollen gekommen. Und das hatte Tante Azai bewirkt. Aber wie sie dahintergekommen war, wusste keiner. Jedenfalls machte es Mia sehr zu schaffen. Und als Isao gegangen war, starrte sie mich perplex an.
»Woher weià sie übrigens, dass Isao rote Unterhosen trägt?«
Eine gewichtige Frage, in diesem Kontext ohnehin. Und eine Frage mehr, die wir nicht beantworten konnten. Unsere Wahrnehmung war ein wenig gestört.
Die folgenden Tage sollten mir auf merkwürdige Weise in Erinnerung bleiben, als eine Art Zwischenraum in einem kalten, eisblauen Winter, bevor diese trockene Phase abgelöst wurde von dem
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