Tochter des Windes - Roman
ein Generationswechsel statt: Die Grundstücke hatten an Wert gewonnen, die Neubauten waren urban und schick, während die ursprünglichen Bewohner des Viertels offenbar ebenso alt waren wie ihre ländlichen Einfamilienhäuser. Die Fenster im Erdgeschoss hatten alle blinde Scheiben; hinter manchen dieser Scheiben brannte bereits Licht. Die gepflegten kleinen Gärten waren im Winterschlaf erstarrt, hier und da hingen Wäscheteile, steif vor Frost, an einer Leine.
Mia blieb vor einem dieser Häuser stehen, verglich die Adresse mit der Adresse, die sie aus dem Internet hatte.
»Hier muss es sein.«
»Da wohnt doch niemand mehr«, sagte ich.
Die Häuser rechts und links daneben waren noch bewohnt. Man sah Turnschuhe vor der Tür, an die Wand gelehnte Fahrräder, ein schwaches Licht hinter blinden Scheiben. Aber hier war nichts, das Haus war dunkel, irgendwie abweisend.
»Er ist umgezogen«, sagte Mia entmutigt und enttäuscht. »Oder vielleicht sogar gestorben. Tante Azai hatte ja schon jahrelang keinen Kontakt mehr zu ihm.«
Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche, wählte eine Nummer, schüttelte den Kopf.
»Was sollen wir jetzt machen? Vielleicht bei der Einwohnerbehörde nachfragen, ob da eine Todesmeldung vorliegt?«
»Wäre er gestorben, hätte Tante Azai doch benachrichtigt werden müssen.«
Sie seufzte.
»Ach, vielleicht hat sie es längst vergessen â¦Â«
Noch während wir ratlos dastanden, kam eine Radfahrerin den Weg hinauf und hielt vor einem der Nebenhäuser. Das Fahrrad war klein, wie für ein Kind gemacht, und hatte einen Lenkradkorb aus Draht, in dem eine gefüllte Einkaufstasche
stand. Die Frau stellte ihr Fahrrad an die Wand und ging zurück, um das Tor zu schlieÃen. Sie war eine robuste Fünfzigjährige, trug eine Windjacke und Gummistiefel, in die sie die Jeans gestopft hatte. Mia lief auf sie zu, entschuldigte sich. Ob sie Dr. Matsuo Koga gekannt hatte und ihr sagen konnte, warum er nicht mehr hier wohnte. Die Frau strich ihr dunkles Haar zurück, in dem Schneeflocken glitzerten, und antwortete freundlich. Koga-San sei fortgezogen. Das Grundstück war kürzlich verkauft worden, aber die neuen Besitzer mussten das alte Haus abreiÃen lassen und wollten auf den Frühling warten, bevor die Arbeiten begannen.
»Matsuo-San«, sagte die Nachbarin, »lebt jetzt auf der Insel Tashiro-Jima.«
Mia starrte die Frau verblüfft an.
»Warum ist er denn auf diese Insel gezogen?«
»Seine Frau war von dort. Sie hat noch eine jüngere Schwester, die auf Tashiro-Jima lebt. Koga-San sagte, dass er mit der Schwägerin gut auskommt. Und als pensionierter Arzt konnte er sich auf der Insel noch nützlich machen. Hier verändert sich ja alles. Die Leute, die er kannte, sind nicht mehr da. Auch wir werden nicht mehr lange bleiben â¦Â«
»Ich verstehe«, sagte Mia.
»Sind Sie mit ihm verwandt?«, fragte die Frau, wobei sie sich höflich bemühte, mich nicht allzu neugierig in Augenschein zu nehmen.
»Ja, ich bin seine Nichte. Aber wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Ich habe vergeblich versucht, ihn telefonisch zu erreichen.«
»Oh, wollen Sie seine Handynummer haben?«, fragte die Frau. »Er hat sie mir gegeben für den Fall, dass etwas mit dem Haus sein sollte.«
Mia bedankte sich, sichtlich erleichtert. Die Frau bat sie, einen Augenblick zu warten, lief zu ihrer Tür, wobei sie geschickt
aus den Gummistiefeln stieg, und verschwand im Haus.
»Ich werde ihn sofort anrufen.«
Ich nickte. Schlotternd stand ich da, litt wieder unter Kopfschmerzen und dachte im Zeitlupentempo.
Schon kam die Frau zurück, stieg in ihre Gummistiefel, lief eilig den Weg auf uns zu, wobei ihr der Atem wie eine kleine weiÃe Wolke vor dem Gesicht stand. Die Frau gab Mia die aufgeschriebene Nummer. Beide verbeugten sich, Mia dankend, und die Frau gab uns GrüÃe an Matsuo-San mit. Sie lieà ihm ausrichten, dass mit dem Haus alles in Ordnung war. Die Frau ging wieder, und wir sahen, wie sie ihre Einkaufstaschen ins Haus schleppte. Inzwischen klaubte Mia ihr Handy aus der Tasche und gab die Nummer ein. Irgendwo, in weiter Ferne, erklang eine Stimme.
» Moshi , moshi ?«
Ich ging ein paar Schritte auf die Seite, damit sie in Ruhe reden konnte. Am Himmelsrand waren die Wolken fast schwarz, aber sie kamen nicht höher, schienen irgendwie unten
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