Tochter des Windes - Roman
Eintreffen einer noch kälteren, grauen Wetterfront, die stürmische Winde und Schnee brachte. Das geschah praktisch von einem Tag zum anderen. Dramatische Wetterwechsel sind die Regel in Japan, nicht die Ausnahme, das hatte ich inzwischen gelernt. In dieser Stimmung verbrachten Mia und ich ein paar unruhige Tage. Mia hatte ein wichtiges Projekt am Hals, das während der Neujahrstage nicht weiter gekommen war; jetzt erwartete man ihre Präsenz auf dem Bauplatz. Ich büffelte inzwischen Japanisch, war nur mit halbem Herzen dabei und hatte fortwährend das Gefühl, dass ich unentwegt auf etwas zusteuerte, was mir groÃes Unbehagen bereitete.
Endlich hatte Mia die Sache hinter sich, und wir konnten
uns auf den Weg machen. Onkel Matsuos Adresse hatte Mia im Internet problemlos gefunden; auf Tante Azais Hausnummerngedächtnis wollte sie sich doch lieber nicht verlassen. Was sie beunruhigte, war, dass sie ihn nicht anrufen konnte. Sie kam nie durch. Offenbar war der Onkel nicht zu Hause, oder er ging nicht ans Telefon. Es läutete, aber niemand meldete sich. Das bereitete Mia Kummer. Sie wollte nicht unhöflich sein und unangemeldet bei Onkel Matsuo auftauchen.
»Alte Leute sind manchmal unordentlich, sie möchten doch etwas aufräumen, bevor Besuch kommt.«
»Vielleicht ist er schwerhörig«, meinte ich. »Wie alt ist er eigentlich?«
Sie rechnete nach.
»Ich glaube, fünfundneunzig. Er ist dreizehn Jahre jünger als seine Schwester.«
Mia hatte Onkel Matsuo nur als Kind getroffen, dreimal, jeweils bei familiären Anlässen.
»Ich habe überhaupt keine Ahnung mehr, was er sagte oder wie er aussah. Langweilig, vermutlich. Womöglich ist er längst gaga.«
»Fragst du ihn nach der Schriftrolle«, sagte ich, »wirst du sein Comeback erleben.«
»Ach, ich weià nicht«, seufzte Mia. »Tante Azai verfällt in die Altersgewohnheit, historische Perioden in Dekaden zu ordnen â¦Â«
Mia und ich beschlossen, nach Sendai zu fahren und es darauf ankommen zu lassen.
29. Kapitel
A n diesem Wochenende war es eiskalt. Der Himmel war von kristallklarem Blau, aber am Horizont hingen niedrige, sehr dunkle Wolken. Die Reise mit dem Shinkansen war kurz; nur zwei Stunden, und schon waren wir am Ziel. Sendai gefiel mir auf Anhieb. Die alten Bäume, die alle groÃen Boulevards säumten, hatten ihr den Namen »Stadt der Bäume« gegeben. Weil es noch Winter war, fehlte ihre üppige Schönheit, trotzdem war spürbar, wie sehr Sendaiâs kultivierte Nonchalance im Gegensatz zu der Hektik stand, die Tokio beherrschte. Auch ich hatte mir in der Hauptstadt einen schnellen Gang angewöhnt, weil alle Bewohner durch die StraÃen hetzten. In Sendai nahm man sich Zeit; hier lebte man gelassen. Die Natur war immer da, nicht auf kleinsten Raum gepresst, wie in Tokio, sondern erhaben, nahezu wuchernd, auch wenn sie noch im Winterschlaf lag.
»Ich begreife deinen Onkel«, sagte ich zu Mia. »Wäre ich ein alter Mann, würde ich gerne hier wohnen.«
Doch ich war in mieser Stimmung. Wir stapften durch den Schneematsch; das Klima in Tohoku  â im »Nordosten«  â war hart. Ich fror eigentlich selten, nun ertappte ich mich dabei, dass ich mit den Zähnen klapperte. Dazu hatte ich Kopfschmerzen, die nicht besser wurden. Mia sah mich besorgt an.
»Ist dir nicht gut?«
»Kopfweh !«, stöhnte ich.
»Wenn du Kopfweh hast, musst du essen. Du wirst sehen,
danach geht es dir besser, das Gehirn wird stärker durchblutet.«
Das Dumme war, dass ich gar keinen Hunger hatte.
»Eigentlich möchte ich nur einen Kaffee.«
»Kaffee gibt es später.« Mia wurde energisch, wie es so ihre Art war.
»Also gut«, sagte ich matt. »Ein komisches Klima ist das hierâ¦Â«
Als ob zwei Windströmungen aufeinanderprallten, die eine warm, die andere kalt, und beide sehr extrem.
»Wir sind sehr nahe am Meer«, sagte Mia, »da wechselt das Wetter schnell.«
Mir pochte der Schädel. Vielleicht war Sendai doch nicht der richtige Ort für alte Leute â¦
Wir verkrochen uns in ein Tempura -Restaurant, wo eine ganze Reihe von Köchen an der Arbeit war. Mia gab sachkundig die Bestellung auf. Man hielt uns die Zutaten zur Ansicht hin: perlgraue Garnelen, groÃe rosa Krebse, einen Hummer, der noch schwach die Glieder bewegte, verschiedene Sorten Fischfleisch, das
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