Tochter des Windes - Roman
aufnahmefähig sind? Dass unsere Träume zu verworren sind, um richtig interpretiert zu werden?«
»Im GroÃen und Ganzen ja.«
Mia schüttelte den Kopf, schien nach einer Erwiderung zu suchen, die nicht kam. Tante Azai nahm auf ihre offenbar gepiesackte Empfindlichkeit keine Rücksicht, sah kühl an ihr vorbei.
»Sie sprechen ein schlechtes Japanisch«, sagte sie zu mir, »aber sie haben einen klaren Geist. Yodo-dono brauchte ein Medium.«
»Und das bin ich?«
»Das sind Sie. Ganz eindeutig, würde ich meinen.«
Das ging mir doch ein wenig an die Nieren.
»Erwarten Sie, das ich Ihnen das glaube?«
Sie antwortete gar nicht eingeschnappt.
»Tun Sie mir den Gefallen, versuchen Sie es.«
»Aber was hat das für einen Sinn?«
Sie nickte mir zu. Ihre Worte klangen völlig sachlich.
»Yodo-dono hat nach einer Notlösung gesucht. Man nimmt, was man hat. Unsere Vorfahren waren Menschen der Notwendigkeit. Mia und Isao sollte eine Botschaft übermittelt werden. Aber beide haben verstopfte Ohren. Und was mich betrifft, nun, Yodo-dono hat schon gemerkt, dass mit mir nicht mehr viel los ist â¦Â«
Die Knie begannen mir wehzutun. Ich suchte eine bequemere Haltung.
»Das würde ich nicht gerade sagen â¦Â«
Sie reagierte erstaunlich sanft.
»Nein. Ohne Rollator kann ich keine fünf Schritte mehr gehen. Mit Ihnen ist das etwas anderes.«
»Wieso ist das anders?«
»Sie sind jung. Sie können rennen.«
»Warum sollte ich rennen?«
»Man weià nie. Die Umstände.«
»Na ja, wenn mir der Bus davon fährtâ¦Â«
Sie sah mich an wie ein böser Kobold.
» Gomennasai «, murmelte ich zerknirscht.
Ich wollte es mir mit ihr nicht verderben.
Sie nickte mir huldvoll zu.
»Und was nun?«, fragte ich.
Die alte Dame antwortete nicht mir, sondern richtete ihre nächsten Worte an Mia.
»Ich hoffe, dass deine geistige Verfassung ausreicht, um meine Worte zu beachten. Ich meine  â und das ist keine Vermutung  â, dass sich etwas Verhängnisvolles ereignen wird. Yodo-dono will offenbar, dass du den Bauplan an dich nimmst. Ich kann mir sogar denken, warum. Mein Bruder ist über neunzig und seit einem Jahr Witwer. Alte Männer kommen schlecht alleine zurecht. Alte Frauen sind organisierter. Sie verschwenden ihre Zeit nicht mit Klagen.«
»Er hatte doch einen Sohn, Yukio«, sagte Mia. »Ist der nicht in Kanada?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er ist seit fünf Jahren tot. Ein Skiunfall. Man sollte besser auf die Lawinengefahr achten. Yukio war mit einer Kanadierin verheiratet, die zwei Kinder aus erster Ehe hatte. Ich kann sie nicht unbedingt zu den Nachkommen zählen. AuÃerdem leben sie in Montreal. Zu umständlich, das Ganze. Yododono musste sich etwas einfallen lassen.«
Pure ZweckmäÃigkeit also. Ich begann so nach und nach der verschrobenen Handlung eine gewisse Logik zu unterstellen.
An den Einbruch des Irrationalen in meine völlig rationale Welt musste ich mich zunächst gewöhnen. Ich wusste allerdings nicht, wie ich damit umzugehen hatte. Und Mia offenbar auch nicht. Doch sie kam allmählich wieder zu Verstand.
»Tante Azai, würdest du mir jetzt bitte sagen, was ich tun soll?«
»Ich weià nicht, woran es liegt«, die alte Dame sprach mit einer gewissen Schwerfälligkeit, »aber ich habe das Gefühl, dass es dringend ist. Jedenfalls will ich, dass du Onkel Matsuo in Sendai aufsuchst. Und zwar unverzüglich! Sag ihm, dass du von mir kommst und er dir den Bauplan geben soll. WeiÃt du, wo er wohnt?«
»Ich finde seine Adresse schon im Internet«, sagte Mia.
»Ach ja, im Internet.« Tante Azai schürzte die Lippen. »Internet ist ja für solche Dinge ganz brauchbar. Und jetzt habe ich meine Stimme genug vergeudet. Ich brauche Ruhe.«
Sie nickte der Pflegerin zu, die in regelmäÃigen Abständen vor der Glastür vorbeischlurfte und einen Blick in das Besuchszimmer warf. Nun kam sie herein, half der alten Dame, sich zu erheben, führte sie behutsam hinaus. Wie eine weiÃhaarige Puppe kam sie mir vor, wie ein Häufchen dünner Knochen, an Schnüren aufgehängt, die sich nur noch bewegten, weil sie mit kundiger Hand gestützt und gelenkt wurden. Du groÃer Gott, woher nahm sie nur ihre Energie? Mia und ich traten betroffen zur Seite, lieÃen die alte Dame gehen,
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