Tochter des Windes - Roman
ohne ein weiteres Wort oder auch nur noch einen Blick zu erwarten. Mit einer Hand stützte sie sich auf den Arm der Pflegerin, mit der anderen hielt sie die Tagebücher fest an sich gepresst. Die Sonne sank, das Licht stand schräg, und es roch nach Essen. Ich sah auf die Uhr. Tante Azai hatte über drei Stunden geredet. Es war, als habe die Stimme eines Herzens aus dem alten Japan zu uns herübergetönt. Im Klang
dieser Stimme war ein Drama erwacht. Prunk und Freude, Krieg und Schmerz wogten aus der Tiefe der Geschichte auf, und in einem gewaltigen Strudel schien auch mich diese Geschichte zu umkreisen, mich in eine Lebensinsel zu entführen, die fern war und fremd, aber auch eigentümlich vertraut. Sie nahm meine Fantasie und meinen Geist gefangen, mit solcher Treffsicherheit, dass diese Geschichte mir wie ein Teil meiner selbst entgegentrat, als ein grandios gesteigertes Bewusstsein meiner eigenen Persönlichkeit.
28. Kapitel
W ir sprachen mit Isao. Es war allmählich dringend geworden. Mia, sehr in Unruhe, wollte ein klärendes Gespräch. Doch es erwies sich, dass diese Unterredung uns vor neue Rätsel stellte. Wir trafen uns in Mias Glastraum (oder -albtraum) im achtundzwanzigsten Stockwerk. Isao, elegant wie immer, sah etwas verwirrt aus. Sein weiÃes Haar war etwas strubbelig, was ihm eine Art Aura gab, sehr smart, das Ganze. Auch er steckte mitten in Bauprojekten, hatte den Kopf  â wie er sich ausdrückte  â voller Stahlbeton. Wir erzählten ihm, was sich zugetragen hatte. Isao fiel von seinem Hubschrauber auf den Erdboden zurück. Wie, Rainer hatte das Phantom seiner Ahnfrau gesehen? Was genau hatte Tante Azai erzählt? Wie alle, die sich mit Architektur befassten, hatte ihn das Rätsel von Azuchi von jeher fasziniert. Doch was übrig blieb ⦠Diese Steine waren für ihn nicht viel anders als die Höhlenmalereien von Steinzeitmenschen gewesen, die kein Morgen mehr hatten, nur noch Vergangenheit. Die Geschichte mit dem Bauplan aber fiel auf ihn herab, sagte er, als ob sie von einem anderen Planeten käme, was  â im symbolischen Sinne  â gar nicht so falsch war. Dieser Bauplan, gab es ihn wirklich? Und gehörte er ihm? »Er gehört der Familie«, sagte Mia. Isao war sehr bewegt. Er trug Bilder in sich, vermischt und verschmolzen mit etlichen Geschichten, die in seinem Unbewussten immer noch flüsterten. Aber wir mussten von Dingen reden, die ihm vielleicht unangenehm
waren. Tante Azai hatte es uns ja aufgetragen. Ãber solche Dinge zu reden war schwierig. Zunächst fragte Mia recht vorsichtig, wann er denn das letzte Mal bei der alten Dame gewesen war. Isao antwortete überrascht.
»An ihrem Geburtstag. Du warst doch auch dabei.«
»Und dann nicht mehr?«
Isao sah plötzlich betreten aus.
»Neulich waren Masahiro und ich in der Nähe, da haben wir mal kurz bei ihr hereingeschaut und Kuchen mitgebracht.«
»Wann war das?«
»Vor zehn Tagen oder so. Masahiro war nervös, weil sie ihm ständig mit persönlichen Fragen auf die Pelle rückte. Aber sie schien ihn zu mögen â¦Â«
»So so â¦Â«
Isaos Stimme klang verlegen. »Warum fragst du?«
Mia zögerte, und ich sah schon wieder ein neues Rätsel auf mich zukommen. Mir wuchs das Ganze ein wenig über den Kopf.
»Habt ihr Tante Azai erzählt, wie ihr zueinander steht?«
Isao errötete. Die Sache war ihm eindeutig peinlich.
»Nein, wie kommst du darauf? Ãber solche Dinge kann ich doch mit ihr nicht reden!«
Ich seufzte innerlich auf. Oh doch, das kannst du, mein lieber Isao! Und weil Mia offenbar nicht wusste, wie sie ihm die nächste Frage stellen sollte, mischte ich mich taktlos ein.
»Weià sie ⦠ähm ⦠dass Masahiro Koks nimmt?«
Isao starrte mich fassungslos an.
»Masahiro soll Drogen nehmen?«
Er sprach das Wort Drogen aus, als ob dieser Begriff in seinem üblichen Wortschatz nicht vorkam. Mia und ich wechselten einen perplexen Blick. Wo lebte Isao eigentlich? In seinem Hubschrauber? Auf dem Mond? Und angenommen, er
hatte wirklich keine Ahnung von der Sache  â woher hätte es denn Tante Azai wissen sollen?
»Wer hat das behauptet?«, fragte Isao entnervt. »Das stimmt doch überhaupt nichtâ¦Â«
»Bist du da ganz sicher?«, fragte Mia vorsichtig.
Denkschwäche konnten wir Isao nicht vorwerfen.
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