Tochter des Windes - Roman
Leben zieht vorüber, aber es ist nicht das gleiche Leben. So in etwa verstehe ich es.«
Ich starrte sie fasziniert an. Sie sprach mit Klarheit und Kühle und zugleich mit groÃer Abgeklärtheit. Dem Aussehen nach war sie ungefähr in Tanjas Alter, aber Mia hatte diesen ganz anderen Blick, für die Ferne gemacht, für die räumliche und die geistige Ferne. Es war kein Wegschauen in diesem Blick, sondern ein ständiges Beobachten.
Ich fragte: »Was konnten Sie über Letzel in Erfahrung bringen?«
Sie seufzte kurz auf.
»Nicht viel, leider. Radio Prag brachte kürzlich eine Sendung über ihn, legte allerdings das Gewicht auf den Abwurf
der Atombombe. Und seine Geburtsstadt Nachod  â das ist in der Nähe von Prag  â veranstaltete 2000 ein Letzel-Jahr, mit Kammermusik und Vorlesungen. Man gedenkt ihm also, aber fast nur auf lokaler Ebene. Ich war in Nachod, eine hübsche, verschlafene Kleinstadt. Sein Elternhaus steht noch. Die Familie soll Briefe von ihm besitzen, die sie nicht an die Ãffentlichkeit bringen will. Ich kann das verstehen.«
Letzel war Hotelierssohn gewesen, hatte zuerst in einer Kunstschule in Prag studiert, immerhin bei Jan Kotera, der die moderne Kunst in der Tschechoslowakei verbreitete. Letzel war sehr vom Jugendstil geprägt, wobei seine Faszination für Japan bereits vorhanden war, bevor er die Reise antrat. Im Kunsthandwerk und in der Malerei war Japan damals sehr in Mode. Le style japonisant nannten es die Franzosen.
»Ich habe Bilder von Letzel in japanischer Kleidung gesehen«, sagte Mia. »Er trug sie übrigens recht gut. Und als er in Japan lebte, wurde er im Gesichtsausdruck und in der Haltung immer japanischer.«
»Wie macht man das?«, fragte ich perplex.
Sie blinzelte amüsiert.
»Ach, wer längere Zeit in Japan lebt, passt sich an. Das Chamäleon-Syndrom nenne ich das.«
Ich fuhr unwillkürlich mit der Hand über meine blonden Haarstoppeln.
Sie lachte.
»Nein, es hat nichts mit der Haarfarbe zu tun, wirklich nicht.«
»Womit denn sonst?«
»Mit der Gesinnung«, sagte sie. »Mit dem Gefühl, ob man sich bei uns wohlfühlt oder nicht. Das ist bei jedem Menschen anders, ne?«
»Und Letzel mochte Japan also sehr?«
Sie nickte.
»Er ging zunächst nach Ãgypten, und von dort aus nach Japan, wo er zehn Jahre verbrachte. Eine lange Zeit, wenn man bedenkt, dass sein Leben so kurz war. 1923, nach dem groÃen Erdbeben, kehrte er in die Heimat zurück. Tokio lag in Ruinen, die Zerstörungen waren enorm, und Letzel, an Tuberkulose erkrankt, fehlte es an der nötigen Pflege. Er starb mit fünfundvierzig Jahren, in Prag.«
Beim Sprechen fuhr sie fort, mich nachdenklich und genau zu betrachten. Ich nahm schweigend einen Schluck Wein und dachte  â einmal mehr  â an Tanja. Es war kein Problem gewesen, ihre leichtfertige Seele zu fangen. Aber solche Gespräche hätte ich mit ihr nie führen können. Wurde es ihr langweilig, gähnte sie ohne Rücksicht. »Ich bin müde«, sagte sie dann, stand auf und beendete das Gespräch, das  â ich merkte es im Nachhinein  â eigentlich nur ein Selbstgespräch gewesen war. Ich sprach zu mir selbst, und sie hörte nicht zu.
»Sind Sie müde?«, fragte ich Mia.
Sie sah mich an mit diesem Blick, der ihr eigen war, gleichsam rätselhaft und offen, amüsiert und etwas abschätzend.
»Und wie steht es mit Ihnen?«
»Ich weià nicht«, sagte ich.
»Doch«, sagte sie, »Sie sehen müde aus.«
Ich rieb mir die Augen.
»Wieso, ist das so offensichtlich?«
»Ich sehe es eigentlich nicht«, sagte sie. »Ich spüre es nur. Und wir sind schon mehr als zwei Stunden hier.«
»Nein«, sagte ich, »noch nicht ganz zwei Stunden.«
Wir sahen uns an und lächelten beide gleichzeitig.
»Ich bin froh, Ihnen begegnet zu sein«, sagte ich. »Prag ist eine wundervolle Stadt.«
»Oh ja, wundervoll. Aber es gibt vieles, das ich noch nicht gesehen habe.«
»Wollen wir uns Prag zusammen ansehen?«
Ich spürte, wie sie kurz zögerte.
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie das möchten?«, fragte sie.
Sie wollte sich nicht aufdrängen. Und gab mir gleichzeitig zu verstehen, dass sie sehr gut ohne mich auskam. Ich schüttelte schnell den Kopf.
»Nichts gefiele mir besser!«
Sie
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