Tochter des Windes - Roman
Sprache zu tun. Japanern kommt das L schwer über die Zunge. Wenn meine Mutter von ihm sprach, sagte sie immer âºJan Retzerâ¹. Das hörte sich wirklich komisch an. Und am Ende hatte sie es satt und nannte ihn nur noch Jan. Einfachheitshalber.«
»Dann hat Ihre Mutter ihn also gekannt?«
»Auch nicht. Sie war noch nicht auf der Welt, als er in Japan lebte. Eine Tante soll ihn gekannt haben. Deren Vater war Arzt, und Jan Letzel kam zu ihm in die Sprechstunde. Dazu muss ich noch sagen, dass wir Verwandte in Hiroshima hatten, sodass Letzel auf ziemlich unklare Art zu unserer Familiengeschichte gehört.«
»Hat Letzel in Hiroshima gearbeitet?«, fragte ich mit zunehmendem Interesse.
»Ja, in Hiroshima auch. Und in anderen Städten. Er hat in Japan eine Anzahl bedeutender Bauwerke entworfen. Im Ganzen müssen es wohl über vierzig sein: Universitäten, Hotels, Banken, die deutsche Botschaft, die japanische Handelskammer. Aber fast alles wurde zerstört, durch Erdbeben oder durch den Krieg. Nur ein Bauwerk steht noch, als Ruine: der Genbaku- Dom, eigentlich das Stadthaus von Hiroshima.«
»Ich habe nicht gewusst«, sagte ich, »dass ein Prager Architekt es gebaut hat. Da müssen die Tschechen ja mächtig stolz auf ihn sein!«
Tschechen sind charmant und warmherzig, aber glühende Nationalisten und nahezu anmaÃend, wenn es um ihre Kultur geht. Der Genbaku- Dom, das Wahrzeichen Hiroshimas, war als Friedensdenkmal auf der ganzen Welt bekannt und gehörte zum Kulturerbe der Menschheit.
Sie schüttelte bekümmert den Kopf.
»Hierzulande kennt ihn fast niemand mehr.«
»Das kann doch nicht sein!«
»Leider ist es so. Das hat mich sehr, sehr enttäuscht. Ich bin Architektin, müssen Sie wissen. Mein Bruder und ich haben zusammen eine Firma in Tokio. Wir beschäftigen ein Dutzend Leute. Als Studentin verbrachte ich vier Semester in München. Mein Spezialfach war der Jugendstil als Reformbewegung des späten neunzehnten Jahrhunderts.«
Ich unterbrach sie.
»Deswegen sprechen Sie so gut Deutsch! Ich dachte mir ja schon, dass Sie das nicht im Ausland gelernt haben können.«
Sie bewegte die feingliedrige Hand vor ihrem Gesicht hin und her. Ihre Finger lieÃen mich an einen kleinen Fächer denken. Geisha-Fantasien. Sie war Architektin.
»Sagen Sie das nicht, Sie machen mich sehr verlegen. Nein, mein Deutsch ist sehr mangelhaft, und ich vergesse vieles.«
»Aber nicht so viel, dass wir uns nicht unterhalten könnten«, sagte ich, vorsichtig ein fremdes Ego tangierend, das womöglich raubkatzenartig zurückschlagen würde. Aber nein, sie lächelte.
»Doch nur, weil Sie nachsichtig sind und langsam mit mir sprechen. Und zum Glück gibt es Wörterbücher. Deutsch und Englisch  â ich habe meistens zwei dabei.«
»Heute Abend auch?«
Sie lachte vergnügt auf. Sie hatte das unwiderstehliche Lachen eines Schulmädchens.
»Sie hätten nicht in die Clutch gepasst! AuÃerdem redet man nicht in der Oper, da hört man zu!«
»Da haben Sie allerdings recht«, sagte ich.
Sie sprach weiter. Ich musste immer wieder auf ihre Hände schauen, die sie in einem anmutigen Spiel bog, ganz unbewusst. Von München aus hatte sie verschiedene Städte abgeklopft, immer auf der Suche nach Jugendstilbauten, die noch erhalten waren: Hagen, Darmstadt, Nürnberg, Dresden und Leipzig. Und  â ja, Hamburg kannte sie auch. Danach war sie in Brüssel gewesen, in Paris und in Barcelona. Nicht nur die Bauten interessierten sie, sondern auch die Möbel, die Dekorationselemente, das Kunsthandwerk, die Bilder, der Schmuck.
»Was damals entworfen wurde, war absolut neu, wagemutig,
groÃartig. Eine Kunst, die abbrechen musste im Moment höchster Entfaltung: Die beiden Weltkriege hatten ihr jede Zukunft genommen. Und so viel Schönes ist ganz oder fast ganz zerstört worden! Es ist ein Jammer â¦Â«
»Ja«, sagte ich, »wir sind ständig konfrontiert mit dem Vernunftwidrigen, Absurden der Zerstörung. Mörder werden vor Gericht gestellt, aber für das Vernichten von Kunstwerken gibt es kein Tribunal. Es ist, als ob die Menschheit sich ewig selbst zerstören wollte. Es sollte eine weltweite Verantwortung geben. Aber wo ist sie?«
Sie trank einen Schluck Wein, bestätigte meine Worte mit einem kleinen Kopfzeichen.
»Kunstwerke sind so
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