Tochter des Windes - Roman
Ihr Haar hatte eine so bezaubernde kastanienbraune Farbe. Und als ich ihr Lächeln sah, fiel es mir plötzlich leicht, sie zu duzen.
»Du siehst prachtvoll aus«, sagte ich.
Sie deutete lachend eine Verbeugung an.
»Danke, ich habe gut gefrühstückt. Und wie steht es mit dir?«
»Ich bin voller Tatendrang«, sagte ich. »Wohin wollen wir gehen?«
Der ganze Tag lag vor uns, und es war wundervoll. Wir besprachen unsere Besichtigungsroute. Mia hatte die Altstadt bereits besichtigt. Ich schlug den Aufstieg zur Prager Burg und zu den Königsgärten vor. Das Palais Lobkowitz mit seinen Kollektionen sei auch sehenswert.
Sie war einverstanden, überlieà mir gerne die Führung. Sie ging so schnell wie ich, ja schneller, die Hitze schien ihr nichts auszumachen. Die sei sie von Japan gewohnt, meinte sie. Andere Touristen keuchten und waren rot im Gesicht. Mia schwitzte nicht einmal. Ich entdeckte, dass ihr Interesse an den Orten und an den Dingen, die wir sahen, wirklich echt war. Sie war in Prag, um zu verstehen, um genau hinzusehen.
Es interessierte sie nicht nur, weil sie beschlossen hatte, es interessant zu finden, sondern weil es Teil ihres Wesens war, das Warum der Dinge zu begreifen. Und daneben war sie immer gleichbleibend heiter. Fragte ich Mia, ob sie müde oder durstig sei, antwortete sie immer: »Und du?«, sodass es mir nicht immer leichtfiel, ihr zu antworten. Sagte ich: »Ja, ich bin müde«, oder: »Ich bin durstig«, kam ich mir wie ein Waschlappen vor, weil sie selbst so genügsam war. Weil ihr immer nur mein Befinden wichtig zu sein schien, war ich gezwungen, auf das ihre zu achten, und hätte ich es nicht getan, wäre ich mir wie ein Grobian vorgekommen. Es mochte  â überlegte ich, da ich immer viel überlegte  â eine sehr subtile, taktvolle Art sein, einen Mann zu manipulieren. Und es war schon so, dass ich mich gerne auf diese Weise manipulieren lieÃ. Frauen dieser Art waren nicht für Dummköpfe gemacht. Dabei schien mir Mia absolut in der Lage, auch aus einem Idioten einen zivilisierten Menschen zu machen.
Zu zweit erlangt man ein neues Auge zum Sehen, ein neues Ohr zum Hören und  â als zusätzliches Geschenk  â ein neues Herz zum Verstehen. Prag ist als »die goldene Stadt« bekannt, aber bisher hatte ich wenig davon bemerkt. Ich war im eigenen Kopf gefangen gewesen, durch Versagen und Schuldgefühle gehemmt, durch Bedauern und zerbrochene Sehnsüchte zum Jammerlappen degradiert. Und jetzt begriff ich nach und nach, dass ich für mein Abgleiten ins Selbstmitleid nur das bekommen hatte, was ich verdiente: nichts. Mit Mia an meiner Seite erfasste ich die Verwicklungen und Paradoxien der Geschichte, die diese Stadt bewegten. In gemeinsamer Entdeckerfreude bewunderten wir das Prunkvolle und Verspielte und ahnten hinter dem Schmutzigen und Vernachlässigten die schlecht verheilten Wunden der Kriege. Prag erzählte von Aufständen und Pogromen, von
Fanatikern und Weisen, von Dichtern und Freigeistern und Bürgerschrecks. Die mysteriöse Welt der Märchen und Sagen war unsichtbar gegenwärtig. Feen und Magier, Kobolde und Riesen halfen den Menschen, wenn diese den Mut fanden, den Widrigkeiten der Geschichte zu trotzen. Dann erhob sich der Golem aus dem Lehm der Jahrhunderte, und das Volk zeigte seine zielstrebige, gewaltlose Macht, bekämpfte mit bloÃen Händen die Panzer des Warschauer Paktes. An vielen Stellen zeigen die Mauern noch Spuren von Kugeleinschlägen. Die Russen hatten Maschinengewehre, und die haben sie auch eingesetzt. Man verputzt die Löcher nicht, alle sollen sie sehen. Sie sind gleichsam Narben, Mahnmale und Siegerorden.
Im Innenhof des Palais Lobkowitz befand sich ein hübsches Café. Wir setzten uns in den Schatten und merkten erst jetzt, dass wir Hunger hatten. Ich hörte eine Uhr zwei schlagen. Wir waren seit vielen Stunden unterwegs, aber bisher war uns nicht in den Sinn gekommen, essen zu gehen. Wir bestellten Hühnersandwich und einen hübsch zubereiteten Salat.
»Ach, Gott«, seufzte ich zufrieden. »Was für ein schöner Tag!«
Sie nickte.
»Ja. Mir prägt sich alles, was ich sehe, tief ein. Ich bin seit fünf Tagen hier und entdecke immer wieder Neues.«
»Prag ist voller Ãberraschungen«, sagte ich und sah sie bedeutungsvoll an.
Sie verstand sofort, was ich meinte, und lachte hell
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