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Tod am Zollhaus

Tod am Zollhaus

Titel: Tod am Zollhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Waage hievte. Ausrufer priesen ihre frischen Aale, Hampelmänner für brave Kinder, Tauben, Zitronen und Kieler Sprotten. Wasserträger und Scherenschleifer boten ihre Dienste an.
    Dann schaffte die Ratswache mit lautem Geschrei Platz für die Kutschen der Ratsherren, unterwegs zum nahen Rathaus. Er hörte die Köchinnen und Mägde auf dem Weg zum Markt am Messberg miteinander klatschen und lachen, Hunde bellten, und jede Stunde erinnerte der Glockenschlag von St. Petri, wie die Zeit verrann.
    Jean wusste nicht, ob er sich wünschen sollte, dass sie langsamer oder schneller verrann.
    Es hatte nur zwei Tage gedauert, bis er die Fronknechte mit einem krächzenden Husten beim Kartenspiel störte. Schließlich gaben sie ihm eine zweite Decke. Es war lange keiner mehr gehenkt worden, und das Spektakel wollten sie sich nicht entgehen lassen, nur weil der Komödiant zu bald am Fieber starb. Dass einer, der den ersten Schreiber von Claes Herrmanns erstochen hatte, gehenkt wurde, war sicher. Das sagten sie auch den beiden Frauen, die den Gefangenen am Nachmittag besuchen wollten. Die Knechte hatten sie wieder fortgeschickt. Nur der Pfarrer durfte einen Mörder besuchen. Aber der kam erst eine Stunde vor seinem letzten Gang, und so weit war es noch nicht. Jean hatte nicht gehört, wie Helena und Rosina beteuerten, sie wollten den Gefangenen nur an seine Christenpflicht erinnern, die große Sünde zu gestehen. Er hatte auch nicht gehört, wie die Fronknechte die beiden Frauen auslachten und mit groben, gierigen Händen aus der Wachstube drängten. Jean hockte auf dem Strohsack und fühlte sich verlassen wie ein Kind.
    Am schlimmsten war, dass er sich nicht erinnern konnte, was in jener Nacht wirklich geschehen war. Er war im Scharfen Anker an den Mühren eingekehrt, das wusste er noch. Dort wurde beim Spiel nur so wenig betrogen, dass er leicht mithalten konnte, und das Bier war billig und doch nicht gepanscht. Wahrscheinlich war es sogar zu stark gewesen.
    Immer wieder dachte er an die Minuten, bevor die Stadtwache ihn in die Fronerei schleppte. Daran konnte er sich genau erinnern:
    Er war unter einem Haustor aufgewacht und hatte gefühlt, dass es regnete. Kalt, aber nicht so unangenehm, dieser Regen. Leicht wie eine Tüllgardine strich er über das Gesicht, fein und geradezu zärtlich. Wieso Tüllgardine? Ach, Jean seufzte zufrieden, die Gardine in der Kammer über der Schenke, in der er eine köstliche Stunde verbracht hatte, bevor das Würfelspiel begann. Wie hatte die Kleine doch geheißen? Der Name fiel ihm nicht ein. Aber er fühlte noch ihren festen, wohlgerundeten Hintern in seinen Händen, die Brüste, das feine flachsblonde Haar – teuer war sie, das wohl. Aber sie war es wert gewesen.
    Allmählich wurde aus der zärtlichen Gardine auf seinem Gesicht doch schlichter Regen. Jean setzte sich auf. Sofort begann sich die Welt um ihn zu drehen. Ihm wurde übel, und der Schmerz unter seiner Schädeldecke holte ihn endgültig aus seinen Träumen.
    Am Hinterkopf fühlte er eine dicke Beule, und als er seine Hand zurückzog, sah er, dass sie blutig war. Oder schmutzig. Das war in der Dunkelheit nicht so genau zu erkennen. Egal, der Kopf schmerzte höllisch. Er blickte sich um. Das war nicht die enge Gasse, die zum Scharfen Anker führte. Nahe beim Hafen sahen alle Gassen gleich aus, jedenfalls für einen Fremden wie ihn. Aber diese war breiter als die anderen. Und heller. Er blinzelte, langsam wurde sein Geist klarer, und er begriff, wo er war. Der massige schwarze Schatten vor ihm wurde zur Fassade eines solide gemauerten Hauses, hoch wie eine Kirche. Er zählte sechs breite Fenster in jeder Etage, alle stockdunkel, und an dem turmartigen Aufbau auf dem Dach, der sich nun scharf gegen den Nachthimmel abhob, erkannte er endlich das prächtige alte Gesellschaftshaus, das die Hamburger Baumhaus nannten.
    Wie war er nur hierhergekommen? Das Baumhaus stand am Elbufer, genau an der Alstermündung, wo nachts schwimmende Barrieren aus mächtigen Baumstämmen die Einfahrt des Binnenhafens zum offenen Fluss hin verschlossen. Jetzt hörte er auch das leise Glucksen des Wassers an den kräftigen Mauersäulen, die das Haus auf der Uferseite trugen. Jean hatte dieses Haus, eines der schönsten und berühmtesten der Stadt, nie betreten. In den Sälen im oberen Stockwerk feierten die reichen Bürger ihre Feste, in dem noblen Restaurant, im Spielzimmer und im Weinkeller handelten Kaufleute, Kapitäne und Diplomaten ihre Geschäfte aus,

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